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Das Dorf der Lenker
In Joseph Ratzingers Geburtsort wird der Papst vermarktet
Kennen Sie Georg Lankensperger? Dieser geniale Erfinder konstruierte 1816 die Achsschenkellenkung für Kutschen. Jedes Auto auf unseren Straßen wird heute nach diesem Prinzip gesteuert. Insofern hat Lankenspergers Arbeit womöglich mehr Auswirkungen auf den Alltag anno 2006 als das Wirken von Papst Benedikt XVI.
Ohnehin bleibt es einstweilen müßig, darüber zu diskutieren, ob das aus Deutschland gebürtige Oberhaupt der Katholiken in 200 Jahren rückblickend betrachtet ein vergleichsweise richtungsweisender Kirchenlenker sein wird. Der - zugegeben - etwas despektierliche, jedenfalls eher scherzhaft gemeinte VergleichÊist nur scheinbar völlig an den Haaren herbeigezogen. Ganz besonders gilt das in dem unscheinbaren Dorf Marktl am Inn. Denn Joseph Ratzinger erblickte am 16. April 1927 just in dem Haus das Licht der Welt, in dem eben jener Georg LankenspergerÊam 31. März 1779 geboren wurde.
Es ehrt die Gemeinde, dass an dem viel fotografierten Gebäude zwei gleich große Gedenktafeln für die berühmten Söhne des Ortes hängen. Ansonsten kennt Marktl nur ein Thema -Êund das ist die übermäßige Kommerzialisierung des Papst-Tourismus.
Verirrten sich früher gerade mal 2000 Touristen per anno in die Gemeinde, so ist die Zahl seit der Wahl Ratzingers zum ersten deutschen Papst seit einem halben Jahrtausend auf 200 000 Besucher geradezu explodiert. Die leidgeprüfte Familie, die vor dem Ansturm auf das »Papst-Haus« kapitulierte und ihre Wohnung dort fluchtartig räumte, konnte ein Lied davon singen. Jetzt wird das Haus zur Begegnungsstätte umgebaut. Das Geburtszimmer des Papstes kann allerdings schon zeitweise besichtigt werden. Originalmobiliar der Familie ist freilich nicht mehr vorhanden, man muss also mit modernen Museumskonzepten arbeiten, um ein »Raum-Erlebnis« zu kreieren.
Das einzige historische Erinnerungsstück an den Papst ist sein Taufstein, der aus dem Museumskeller geholt, renoviert, mit einem Deckel versehen und im Altarraum der Dorfkirche aufgestellt wurde. Und wie der Papst zuweilen von seinen jungen Anhängern wie ein Popstar gefeiert wird, so ist es heute ein besonderes Ereignis, in dieser Kirche einen Gottesdienst mitzuerleben. Da wird die Heilige Messe zum »UrlaubsEvent«.
Die Marktler schüren diesen Hype und überbieten sich gegenseitig in kitschiger Vermarktung. Besonders die ortsansässigen Bäcker ernten von Gläubigen, die mit dem Rummel nichts anfangen können, nur Kopfschütteln für Marzipan-Mitra, Benediktschnitten und Papst-Torte. Im Nachbargebäude des Geburtshauses werden Papstbier, Papst-Kaffeepötte, Benediktkerzen und andere Souvenirs verkauft.
Da Marktl optisch nichts anderes zu bieten hat, sind solche Auswüchse eben auch eine Sehenswürdigkeit. Dazu passt, dass mitten im Ortszentrum ein leeres Wirtshaus dem Verfall preisgegeben ist und ein anderes Grundstück mit riesiger Werbung für das benachbarte Burghausen zugehängt ist.
Kein Wunder, dass der Vatikan Marktl aus der Bayernreise des Papstes ausklammern wollte und schließlich nur eine kurze Fahrt durch den Ort und ein Gebet in der Kirche vorsah.
Ein echter Hingucker, eine ebenso stilvolle wie angemessene Würdigung Joseph Ratzingers ist allerdings ein Kunstwerk von Joseph Michael Neustifter, welches vor dem Heimatmuseum gegenüber dem Geburtshaus der beiden »Lenker« steht.
Vier Meter hoch und fast eine Tonne schwer ist die Benediktsäule. Das Werk, das die Form einer leicht geöffneten Schriftrolle hat, wurdeÊam Tag vor dem Beginn des Papstbesuchs,Êim Herbst 2006, auf dem Marktplatz zwischen Rathaus und Ratzingers Geburtshaus aufgestellt. Bürgermeister Hubert Gschwendtner betonte, es gehe nicht um Personenkult, sondern um ein Zeichen der christlichen Botschaft.
Das Kunstwerk biete die Gelegenheit, sich mit Glaubensfragen auseinanderzusetzen. Die Säule aus Bronze ist sowohl Benedikt XVI. als auch dem Heiligen Benedikt von Nursia gewidmet. Auf der Säule sind mehrere Zitate zu lesen, unter anderem »Die Kirche ist jung, sie trägt die Zukunft der Welt in sich« (Benediktregel) oder »Wer glaubt, ist nie allein« (Motto des Papstbesuchs).
Außerdem schmücken mehrere Darstellungen, die den Ordensgründer der Benediktiner als schreibenden Mönch zeigen, die Säule. Als Berater nahm der Regensburger Philosoph Ulrich Hommes, ein Freund Benedikts XVI., großen Einfluss auf das Werk. ÊDer PapstÊselbst hatte vorab das Kunstwerk wohlwollend kommentiert: »Da darf sich Marktl auf etwas Schönes freuen. Und ich mich auch.«
Joseph Ratzinger pfiff denn auch auf das strenge Vatikan-Protokoll, ließ das »Papamobil« (natürlich auch mit Lankenspergers Achsschenkellenkung) einfach unprogrammgemäß anhalten und stieg an der Säule aus. Als er Joseph Michael Neustifter herzlich begrüßte, war seine Freude deutlich zu spüren.
Wem übrigens nach dem Betrachten der Papst-Säule der Sinn nach weiterer innerer Einkehr steht, der lenkt sein Auto anschließend ins nahe Altötting. Und auch dabei hilft jetzt und in Zukunft eben der Lankensperger Schorsch...Thomas Albertsen

Artikel vom 11.11.2006