09.11.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Ein Foto des 1940 im KZ ermordeten Hugo Schweitzer.

Bewegender
Moment der
Erinnerung

Sohn am »Stolperstein« des Vaters

Von Hendrik Uffmann
Bielefeld (WB). Eisiger Herbstwind weht vor dem Eingang zur Gesamtschule Stieghorst. Mit einer Decke über den Knien gegen die Kälte geschützt, sitzt Hugo Schweitzer in einem Rollstuhl und schaut auf das kleine Quadrat aus Messing, das in den Boden eingelassen ist. Darauf steht der Name seines Vaters, Hugo Schweitzer, der am 7. April 1940 im KZ Sachsenhausen ermordet wurde.

Es war ein bewegender Augenblick für den heute 86 Jahre alten Sohn des Getöteten, als er gestern zum ersten Mal den »Stolperstein« besichtigen konnte, den der Bildhauer Gunther Demnig als Erinnerung an Hugo Schweitzer im August verlegt hatte - der bislang zwanzigste in Bielefeld mit Namen von Menschen, die dem Nazi-Regime zum Opfer fielen (das WESTFALEN-BLATT berichtete). Dass er diesen »überwältigenden Moment«, so Hugo Schweitzer, erleben durfte, war nicht selbstverständlich, denn der 86-jährige ist schwer krank und wird bald sterben.
Zur Einweihung des »Stolpersteins« am 17. August konnte er nicht kommen. »Damals war ich zu krank, und so hätte es sein können, dass ich den Stein überhaupt nicht mehr sehen würde«, sagte Schweitzer gestern, und die Anstrengung beim Reden ist ihm deutlich anzumerken.
Dennoch hatte er den unbedingten Wunsch, an die Stelle der Erinnerung an seinen Vater zu kommen. Ein Wunsch, bei dessen Erfüllung ihm die Mitarbeiter von »Haus Zuversicht« halfen. Schweitzer lebt in dem Hospiz in Bethel, und »kleinere Wünsche zu erfüllen ist eines unsere Ziele«, wie die Leiterin des Hauses Ulrike Lübbert erklärte.
Auch wenn ihm das Atmen zwischendurch schwer fiel, erzählte Hugo Schweitzer gestern dennoch von einem Vater. Davon, dass dieser früher am Wortkamp in Stieghorst lebte, etwa an der Stelle, an der heute die Gesamtschule steht. Dass er als Dachdecker im damaligen Dachdeckerverband war, »der ziemlich links ausgerichtet war«. Dass die Mitglieder von den Sicherheitskräften des Nazi-Regimes beobachtet wurden und dass dennoch bei den Treffen »manches zutage kam, was nicht jeder hören durfte«. »Dabei haben sie ihn dann geschnappt. Nachts um drei Uhr kamen sie und holten ihn einfach ab«, erinnert sich der damals 18-jährige Sohn. Das war 1940.
Wochenlang erhielt die Familie dann keinerlei Nachricht mehr, bis schließlich ein Telegramm kam, das kürzer und menschenverachtender kaum sein konnte. »Ehemann an Schwäche nach Darmkatharr verstorben. Kommandant«, lautete der Text, den der Leiter des Konzentrationslagers Sachsenhausen an die Schweitzers schickte. »Was genau mit meinem Vater passierte, weiß ich bis heute nicht«, sagte Hugo Schweitzer.
Um das Schicksal des Ermordeten zu erforschen, hat sich eine Arbeitsgruppe an der Gesamtschule gegründet. Und mit den beteiligten Schülern will Hugo Schweitzer sich bald treffen, um von seinem Vater zu berichten, sagte die stellvertretende Schulleiterin Beate Gollner. Einen Schaukasten mit ersten Ergebnissen der Recherchen gibt es in der Schule bereits.
Dass sein Vater mit einem »Stolperstein« gewürdigt wird, ist für Hugo Schweitzer von großer Bedeutung. »So denkt man daran, dass früher vieles gemacht wurde, was Unrecht ist. Und dass man sich lange Zeit daran nicht erinnert hat.«

Artikel vom 09.11.2006