13.11.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Gewissheit nach 59 Jahren

Post aus Moskau: Gütersloher erhält Gefangenenakte seines Vaters

Von Christian Althoff
Gütersloh (WB). Russland hat sein ehemals geheimes Kriegsarchiv geöffnet, in dem auch Akten deutscher Wehrmachtssoldaten lagern. Bernt Junge (71) aus Gütersloh erfuhr so nach 59 Jahren, wie sein Vater 1947 in Kriegsgefangenschaft zu Tode gekommen war.

Es war Anfang 1945, und Bernt Junge war neun Jahre alt, als er seinen Vater Gerhard zum letzten Mal sah. Der Commerzbank-Angestellte, der als Gefreiter im ukrainischen Lemberg stationiert war, hatte vier Tage Sonderurlaub, weil seine Eltern in Berlin ausgebombt worden waren. Die Zugfahrt dorthin hatte allein schon zwei Tage gedauert, so dass dem Soldaten auf der Rückfahrt nur Stunden blieben, um seine Frau Edith und seinen Sohn in Posen zu besuchen. »Mein Vater kam um Mitternacht nach Hause. Er hat vor Freude Trompete geblasen, um der Nachbarschaft mitzuteilen, dass er da ist«, erinnert sich Bernt Junge mit feuchten Augen. Schon nach fünf Stunden hatte er seinen Vater wieder zum Bahnhof begleiten müssen - es sollte ein Abschied für immer sein.
Im April 1945 nahm die Rote Armee Gerhard Junge (40) in der Tschechoslowakei gefangen. 19 zum Teil kunstvoll illustrierte Postkarten erreichten die Familie seit Mitte 1946 aus dem Gefangenenlager. »Mein Vater beschönigte seine Situation, damit die Post nicht zensiert wurden«, erklärt Bernt Junge, während er einen der vergilbten Grüße studiert. Der Text auf Karte Nummer 16, die die Familie im Juni 1946 erreicht hatte, endet mit dem Satz: »Grüße an Lenchen & Inge Radtke« - Namen, die Bernt Junge und seiner Mutter unbekannt waren. »Wir fanden dann heraus, dass die jeweils ersten drei Buchstaben zusammengenommen das Wort Leningrad ergeben. Da wussten wir endlich, wo Vater war«, sagt der 71-Jährige.
Als die letzte Karte (»Grüße und Küsse, Vati«) im November 1947 in Berlin-Waidmannslust eintraf, wo Mutter und Sohn inzwischen wohnten, lebte Gerhard Junge nicht mehr. Er war vier Wochen zuvor im Gefangenenlager gestorben. Die Nachricht erhielten die Hinterbliebenen vier Monate später von freigekommenen Kameraden. »Als mein Vater todkrank war, hatte er ihnen seine Essensrationen gegeben und ihnen dafür das Versprechen abgenommen, dass sie Mutter benachrichtigen«, erzählt Bernt Junge. Es sollte noch bis 1961 dauern, bis Mutter und Sohn offiziell über den Tod Gerhard Junges informiert wurden - vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes. »Dort wusste man allerdings nichts über die Todesumstände«, sagt Bernt Junge, der 1968 mit seiner Frau nach Gütersloh gezogen war, um eine Stelle bei Bertelsmann anzutreten.
Die letzten Tage Gerhard Junges blieben im Dunkeln - bis der Gütersloher jetzt einen Zeitungsbericht über den Moskauer Verein »Liga für Russisch-Deutsche Freundschaft« las. »Der Verein hat Zugriff auf das Kriegsarchiv in Moskau, in dem etwa 1,5 Millionen Personenakten lagern sollen«, erzählt Bernt Junge. Auf der Internetseitedes Vereins trug der Gütersloher die Daten seines Vaters in ein Formular ein. Nach Überweisung von 30 Euro erhielt er wenig später die Auskunft, dass eine Akte über seinen Vater existiert. Für weitere 280 Euro bot der Verein eine komplette Fotokopie samt einer beglaubigten Übertragung ins Deutsche an.
Der dicke Umschlag aus Moskau traf vor wenigen Tagen in Gütersloh ein. 19 Seiten stark ist die Gefangenenakte in kyrillischer Schrift, ebenso umfangreich die Übersetzung. »39 Fragen zu seiner Person musste mein Vater bei der Aufnahme ins Gefangenenlager beantworten«, erzählt Bernt Junge und zeigt auf die deutlich lesbare Unterschrift, die Gerhard Junge vor 61 Jahren unter den Fragebogen gesetzt hatte. Der Gütersloher blättert weiter in der Vergangenheit und stößt auf den Krankenbericht des Lagerarztes. »Pulsschlag, Temperatur, Leukozytenwerte, Art und Menge der Medikamente - die haben wirklich alles akribisch protokolliert«, staunt der 71-Jährige.
Aus der Übersetzung ergibt sich, dass sein Vater wegen eines Leistenbruchs mit örtlicher Betäubung operiert worden war und die Ärzte später einen Dünndarmverschluss festgestellt hatten. Der war trotz Behandlung nach fünf Tagen tödlich gewesen. »Die Ärzte haben meinen Vater sogar obduziert«, sagt der Gütersloher und zeigt auf den ausführlichen Bericht, in dem der Kriegsgefangene als »mittelgroß und unterernährt« beschrieben wird. Zuletzt findet sich in der Akte ein Protokoll, das die Bestattung des Verstorbenen am 29. Oktober 1947 bestätigt.
»Es ist beruhigend, endlich die ganze Geschichte zu kennen«, sagt Bernt Junge, der mit dem Schicksal seines Vaters an die Öffentlichkeit gegangen ist, um auf das weitgehend unbekannte Archiv aufmerksam zu machen. Nach der ersten erfolgreichen Recherche hat Bernt Junge jetzt noch einmal nach Moskau geschrieben: »Ich möchte wissen, wo mein Vater beerdigt worden ist. Dahin würde ich gerne noch einmal fahren«, sagt der 71-Jährige.www.suchreferat-moskau.de

Artikel vom 13.11.2006