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Immanuel Kant

»Wenn die Gerechtigkeit untergeht, hat es keinen Wert mehr, dass Menschen auf Erden leben.«

Leitartikel
Mario M. und sein Opfer

Vom Himmel fiel das Umfeld nicht


Von Rolf Dressler
Man sah es ihm an auf Schritt und Tritt: Mario M., geständiger Zigfach-Vergewaltiger der gerade erst 14 Jahre jungen Stephanie, hat sich während der 20 Stunden auf dem Dach des Dresdener Ge- fängnisses weidlich gesonnt im gleißenden Licht von Presse, Funk und Fernsehen. Auch das sei doch ganz furchtbar, meint der örtliche Polizeipräsident Klaus Fleischmann.
Niemand wird dem widersprechen. Doch so ist es nun einmal in unseren Zeiten: Wenn die Medien, noch dazu im eigendynamischen Verbund mit verschreckten Politikern, auf allen Kanälen mit geballter Wirkungsmacht eine sogenannte totale Öffentlichkeit herstellen, verselbständigen sich die Dinge oftmals bis ins abenteuerlich Groteske.
Es zeugt schon von geballter Hilflosigkeit oder, besser gesagt, von blecherner Hohlheit im Geiste, zu welchen Phrasen selbst höherrangige Politikschaffende Zuflucht nehmen. Den Vogel schießt diesmal Sachsens CDU-Justizminister Geert Mackenroth ab. Er stuft den gewaltsam erzwungenen Ausflug des Mario M. auf das Haftanstaltsdach als eher »peinlichen Vorgang« ein - und kündigt in lupenreinem Amtsdeutsch die alsbaldige »bauliche Überprüfung der sächsischen Gefängnisse auf mögliche Sicherheitslücken« an.
Nicht auszudenken, dass dem Serien-Schänder Mario M. womöglich sogar die Flucht ins Freie hätte gelingen können. Selbst dann, so ist zu befürchten, würden wohl auch wieder die Schuldzuweisungen und das »Skandal, Skandal«-Gezänk zwischen Politik und Behörden alles andere schrill übertönen. Wer macht sich wirklich eine Vorstellung davon, was die geschundene und missbrauchte Stephanie schon angesichts der 20-stündigen Fernseh-Dauerübertragung vom Dresdener Gefängnisdach fortan noch obendrein durchleiden muss?
Das Umfeld, das nun auch der Schwerbrecher Mario M. als Bühne nutzte, ist nicht vom Himmel gefallen. Es ist Menschenwerk, angetrieben von einem Zeit(un)- geist, der das Überlieferte verwirft und fundamentale Wertepfeiler aus den Angeln hebt.
Entkriminalisierung, Entstigmatisierung, Therapie statt Bestrafung, Versöhnung des nach Hilfe schreienden Täters mit der Gesellschaft statt Strafe: Was dem Volk jahrzehntelang, natürlich stets im Namen der Humanität, als »Ausbau des Rechtsstaates« verkauft worden ist, lief in Wahrheit, wie wir inzwischen bitter erfahren, auf eine schleichende Aufweichung des Strafrechts hinaus - und letztlich des Empfindens für Recht, offenkundiges Unrecht und gebührende Sühne.
Gesetzbücher, so heißt es in Rechtsgelehrten-Kreisen, »werden nicht für den Laien, sondern für den Richter gemacht. Laien brauchen sie nicht zu verstehen.«
Den brutal-brachialen Mario M. dürfte jedoch auch das absolut nicht (be)kümmern. Hohnlachend triumphierend ist er nicht nur dem Dresdener Gefängnis, sondern gleich dem ganzen Rechtsstaat aufs Dach gestiegen.
Stephanie, das Opfer aber hat er fürs ganze Leben gezeichnet.

Artikel vom 10.11.2006