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»Soziale Gerechtigkeit ist wirtschaftlich vernünftig«

Rüttgers steht zur Debatte um Lebenslügen und irritiert die Genossen - Westerhorstmann folgt auf Wächter

Von Reinhard Brockmann
Borchen (WB). Der Samstag gehörte Jürgen Rüttgers - im »Spiegel«, in der »tagesschau«, bei »Wetten, dass« in der ersten Reihe und beim CDU-Kreisparteitag in Borchen-Dörenhagen.
Jürgen Rüttgers mit der neuen CDU-Kreisvorsitzenden Maria Westerhorstmann und Vorgänger Gerd Wächter (r.). Foto: Bernhard Hagelüken

Erst einmal seien Ehrungen für 60-jährige Mitgliedschaft, sprich Parteigründer im Kreis Paderborn, an der Reihe, das machte der Landesvater bei seiner Ankunft am Morgen in der Dorfhalle klar. Begleitet von TV-Teams und verfolgt von Interview-Anfragen aus ganz Deutschland zeigte sich der Ministerpräsident bester Laune.
Es läuft gut für ihn. Vor allem die Nervosität bei der SPD in Berlin lässt Rüttgers auch im WESTFALEN-BLATT-Gespräch spitzbübisch lächeln: Die Genossen merkten, wie 80 Prozent aller Deutschen, dass sie mit Hartz IV irgendwie daneben lägen. In der »Bild am Sonntag« hatte Franz Müntefering Nerven gezeigt und den CDU-Vize mit Oskar Lafontaine, dem roten Tuch der SPD, über einen Leisten geschlagen. Der Vizekanzler: »Vor einem Jahr machte die Union jedenfalls noch voll auf Westerwelle - und wir mussten verhindern, dass sie aus dem Sozialstaat Kleinholz machen. Heute eifern einige in der Union wie Jürgen Rüttgers Gysi und Lafontaine nach.«
In der Sache geht es Rüttgers um die gerechtere Staffelung von Arbeitslosengeld I, größeres Schonvermögen bei den privaten Rentenrücklagen Langzeitarbeitsloser und die Herausnahme der Kinder aus Hartz IV. Gern nutzte der prominente Gast seine Rede vor den 300 Delegierten in Dörenhagen zur Darstellung des sozialen Profils. Anlass des ausgiebigen Besuchs mit Grundsatzrede, Diskussion und Spitzenrunde im Bürgerhaus nebenan war der Vorsitzendenwechsel im Kreisverband, »wo es die guten Mehrheiten gibt«.
Der verdiente Landes- und Bundespolitiker Gerhard Wächter gab das Amt - getragen von 96 Prozent Ja-Stimmen - in die Hände von Maria Westerhorstmann. Die zupackende und grundwerte-orientierte Frauenpolitikerin vom Lande verkörpert genau jene CDU, mit der Rüttgers die Union nicht nur in NRW über der 40-Prozentmarke sehen möchte.
Soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Vernunft ließen sich in der großen Volkspartei CDU durchaus vereinen, in NRW verträten Sozialausschüsse und CDU-Mittelstandsvereinigung durchaus gemeinsame Positionen. Er schimpft auf die »unglaubliche Sauerei«, die BenQ mit der alten Siemens-Belegschaft in Viersen anstelle, und sieht sich von allen Seiten darin bestätigt, dass die Debatte über die »Lebenslügen« richtig ist. Selbstkritisch fügt Rüttgers hinzu, er selbst habe mitgewirkt an dem Eindruck, dass die Politik die Probleme schon regele - erst mit Geld und dann mit immer mehr Schulden.
Die notwendigen Korrekturen sind unvermeidlich, sollen aber gerecht bleiben. Auch die Staffelung von ALG I sei finanzierbar, allen Nebelkerzen der Münteferings und Becks zum Trotz, versichert Rüttgers. NRW-Arbeitsminister Karl Josef Lauman habe das im Antrag für den CDU-Bundesparteitag Ende November in Dresden exakt vorgerechnet.
Nach dem NRW-Modell soll ALG I bei weniger als 15 Beitragsjahren unverändert ein Jahr lang gezahlt werden. Mit 15 Jahren sollen es 15 Monate sein, von 25 Jahren an 18 Monate und bei 40 Beitragsjahren wieder volle zwei Jahre. Die Mehrausgaben, empfindlichste Stelle in der Argumentation, sollen dadurch finanziert werden, dass die Mindestbeitragszeit von zweieinhalb Jahren »um einige Monate« verlängert wird. Spekulationen darüber, dass eine Senkung des Arbeitslosengeldes geplant sei, weisen Rüttgers und Laumann vehement zurück.
Die ALG-I-Bezugsdauer war Anfang Februar auf grundsätzlich zwölf Monate verkürzt worden. Nur mindestens 55-Jährige erhalten ALG I bis zu 18 Monaten. Es könne nicht sein, dass jemand, der nur ein paar Monate eingezahlt habe, genauso viel erhalte wie jemand, der 30 Jahre in die Arbeitslosenversicherung einzahle - diese Überzeugung vertritt Rüttgers auf allen Kanälen.
Zudem will die NRW-CDU die Zusatzvorsorge von Langzeitarbeitslosen für das Alter stärker schützen. Der Betrag, der den Hartz-IV-Empfängern belassen werden soll, soll künftig nahezu verdreifacht werden, derzeit bleiben monatlich 80 Euro aus der erlaubten Rücklage. Die NRW-CDU will sich in Dresden zudem für ein Kombilohn-Modell für schwer Vermittelbare einsetzen und den Kindergeldzuschlag künftig pauschal bewilligen, um Alleinerziehende stärker zu unterstützen. Im Gegenzug sollen härtere Sanktionen folgen, wenn zumutbare Arbeit abgelehnt wird.

Artikel vom 06.11.2006