06.11.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Augen zu, die Treue kommt

Amüsierter Applaus für die »Schönen Neuen Werte«

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Vier Gestalten unter schwarzen Stoffbahnen. Tschadorträger? Nonnen? Schleiereulen. »Ich seh aus wie 'ne islamische Transe«, mutmaßt der Schauspieler Harald Gieche. Auftaktpremiere von insgesamt drei Abenden im TAMzwei über die Wertediskussion.

Keine Angst, die Texte - diesmal zu den Begriffen Treue, Würde und Verantwortung - beißen nicht, die wollen nur spielen. Die Autoren Anja Hilling, Falk Richter und Ulrich Zieger führen vor: den Papst, Kaiser Manuel II. (Byzanz), Buddha (auf einem Röhrenradio schneidersitzend), den schon morgens beim Aufstehen beleidigten Islamisten und die Menschenrechte in China. »Rechte haben die Chinesen ja genug, es fehlt ihnen nur die Rechtssicherheit.«
Weswegen hat das Bielefelder Theater um Chefdramaturg Uwe Bautz die Reihe »Schöne Neue Werte« überhaupt angestoßen? Nun, ganz Deutschland ist auf der Suche nach Orientierung, für die wiederum das TAMzwei zuständig ist. An drei Premierenabenden (Regie: Dariusch Yazdkhasti) geht's darum zu verstehen (Dilthey), inwieweit die auf Money, Money, Money (ABBA) reduzierte Ideologie (Lübbe) des Kapitalismus (Marx) mit dem Diskurs (Habermas) zusammenhängt, den das Bürgertum (Kocka) - dem 1911 vom spitzen Kopf der Hut flog (van Hoddis), bevor es zwischen den Weltkriegen unterging (Bautz) - heute wieder führt.
Mit dem Terror, mal ehrlich, haben wir uns doch längst arrangiert. Zweimal wöchentlich werden die Leichen müllabgeführt, und die Versorgung mit dem Soma (Aldous Huxley), dem unsere Zivilisation ihr Leben verdankt, ist auch gesichert: Genug Öl? Danke der Nachfrage. Nicole Paul malträtiert die arme Ines Buchmann im Verhör, ob sie wohl zufrieden sei mit dem Rest an Würde, den ihr der videogestützte Überwachungsstaat gelassen hat. Genug Würde übrig? Danke, es reicht. Die Uniformjacke der Verhörspezialistin ist allerdings nicht tarnfarben, sondern rosa, gottseidank, alles nicht so ernst gemeint.
Monika Wegener, sexy Prosecco aus der Dose schlürfend, lässt sich von einem fremden Mann abschleppen. Augen auf: Sie sieht den One-Night-Ständer, also ist's Betrug. Augen zu: Schon wird der Ehemann imaginiert, also ist's doch wieder Treue. So kann man sich einen in die Tasche lügen.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Wählerinnen und Wähler: Schon allein das Eintrittsgeld wert ist Harald Gieches großer Monolog des Bürgermeisters, dessen tolles Projekt - ein Schwimmbad! hurra! - in den Strudeln der Parteipolitik weggurgelt. Und wer hat's in schuld? Der Poliiitiker! Deswegen schießt er sich im Bewusstsein seiner Verantwortung drei Kugeln in den Kopf (seit Oberst Redl etwas aus der Mode gekommen), von denen allerdings keine tödlich ist.
Dasselbe gilt für die drei Textvorlagen. Heftig szenenapplaudierend, gruppieren sich die wenigen der zwischen den Weltkriegen nicht untergegangenen Bürger (das TAMzwei hat nur 50 Plätze) um die als Wohnzimmer des globalisierten Spießers dekorierte Bühne (Friederike Hölscher) und lachen sich kaputt. Dreht man den Kopf, entdeckt man mitten unter ihnen den Bielefelder Ratsherrn Klammer auf SPD Klammer zu, der sich über die Demontage seines fiktiven Kollegen ebenfalls unbändig freut.
Ob er was hinzugelernt hat?
Weitere Vorstellungen: 12., 18., 25. und 30. November; 2., 9./10. und 22. Dezember.

Artikel vom 06.11.2006