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Blick in Brunnen der Erinnerung

»Deutsche Ost-West-Geschichten«

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Die NS-Zeit ist in der Erinnerungskultur längst ein Selbstläufer. Zeitgeschichte hingegen, »die noch nachqualmt«, wird vergleichsweise stiefmütterlich behandelt. Jetzt erinnern sich 20 ältere Zeitzeugen an die deutsch-deutsche Ära nach dem Krieg.

»Dieses Projekt ist bundesweit einzigartig«, versichert Dr. Michael Schräder, der die Autoren fünf Jahre lang auf ihrem kurvigen Weg durch den Umgang mit erlebter Historie begleitet hat. Die 37 »Deutschen Ost-West-Geschichten« sind ein westfälisch-sächsisches Koop-Produkt, geschrieben von Bielefeldern im »Studium ab 50« und von Leipzigern im dortigen »Seniorenstudium«.
Mit einem »Brevier zum 20. Jahrhundert«, in dem sie nach den prägenden Erfahrungen dreier Generationen fragt, eröffnet die Medizinerin Helga Berge (Jahrgang 1922; Leipzig) die Reihe der autobiographischen Skizzen. Sie immerhin durfte studieren, aber dem »Kapitalistensohn« Harry Behnke (Jahrgang 1926; Bielefeld), dessen Vater einen kleinen Bauernhof in der Altmark bewirtschaftete, mochte die linientreue Rektorin der Uni Halle keine akademische Laufbahn gestatten.
»Wir betten das individuelle Erlebnis in die großen Entwicklungslinien ein«, sagt Dr. Magdalene Malwitz-Schütte, Beauftragte des Bielefelder »Studiums ab 50« und neben der Leipzigerin Monika Sosna Herausgeberin des Buches. Marion Grimmelt-Ihle (1929; Bielefeld) beispielsweise gehörte zu denen, die für den entbehrungsreichen Wiederaufbau typisch wurden: Autodidaktin an der Schreibmaschine, »Anlernling« für 78 Mark (Lehrlinge erhielten nur 35 Mark) in einer Bank, Sechstagewoche und zwölf Tage Jahresurlaub, dazu eine Salami als Weihnachtsgratifikation . . .
Sehr bald drifteten die Erfahrungen in DDR und Bundesrepublik auseinander. Lernten die Bewohner beider Deutschlands die materielle Not der Nachkriegsjahre noch gemeinsam kennen, so hinterließen später (sowjetkritische) Demokratie hüben und (antikapitalistische) Diktatur drüben ihre Spuren im Alltag. Beethoven war zu schwierig für den Arbeiter- und Bauernstaat, die Klaus-Renft-Combo zu gefährlich, wie die Pianistin Helga Brachmann (1928; Leipzig), deren Sohn Mitglied der verbotenen Jazzer war, mal humorig, mal unter die Haut gehend schreibt. Schräder (67), Mentor der Autoren und als Fluchthelfer ein Mann »mit Vergangenheit«, wurde von dieser Verve selbst zum Schreiben animiert.
Manch einer fing in der »Stunde Null« (die keine solche war) wie Borcherts Romanfigur »draußen vor der Tür« an, beobachtete den Kalten Krieg mit Sorge, ängstigte sich im Angesicht des RAF-Terrors, war erstaunt über die Umweltschutzaktionisten, registrierte die Kanzlerniederlegung in Warschau und die Wiedervereinigung: Der Industriekaufmann Hendrik Abeler (1934; Bielefeld) überblickt locker sechs Jahrzehnte.
Die Autoren haben Spaß an der Anekdote und blicken hinunter in die Brunnen der Erinnerung, die man längst verschüttet wähnt. Ihr Bemühen hätte sicher ein aufmerksames Lektorat verdient, doch der Inhalt versöhnt mit diesem Manko: Was die »älteren Semester«, gelegentlich von den Böen deutsch-deutscher Empfindlichkeiten durchgerüttelt, in selbst organisierter Arbeit zusammengetragen haben, ist aller Ehren wert.
Der Band aus der Schriftenreihe »Publikationen Wissenschaftliche Weiterbildung« wird nicht über den Buchhandel vertrieben, sondern nur in der »Kontaktstelle Wissenschaftliche Weiterbildung« abgegeben. Die Kontaktstelle hat ihren Sitz im Bielefelder Unigebäude U7-213.
Dr. Magdalene Malwitz-Schütte/ Monika Sosna (Hrsg.): Deutsche Ost-West-Geschichten. Autobiografische Berichte aus Zeitzeugen-Gruppen an den Universitäten Bielefeld und Leipzig; 200 Seiten 11 Euro.

Artikel vom 13.11.2006