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Ungarns enttäuschte Hoffnung

Ende des Aufstands vor 50 Jahren besiegelte Osteuropas Schicksal endgültig

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). Der Ruf nach Hilfe aus dem Westen verhallte ungehört. Stärker als der Beginn des Ungarnaufstandes gegen die Russen am 23. Oktober hat sich dessen brutales Ende an diesem Samstag vor 50 Jahren in die Erinnerung der Zeitzeugen eingebrannt.
Baronin von Wrede lebt heute in Willebadessen.

Bundeskanzler Konrad Adenauer appellierte am 4. November 1956 in einer Hörfunkansprache an die Solidarität des Westens, auch in Frankreich und Amerika rückte die Suezkrise in den Hintergrund. »Radio Freies Europa« überschlug sich mit Krisenberichten und Spekulationen über ein Eingreifen der USA. Aber nichts geschah wirklich im Westen. Die Panzer kamen von Osten.
Was war passiert? Nach 13 Tagen politischen Frühlings im Herbst fiel Ungarn wieder in die Hand der Sowjets. Seit vier Uhr in der Früh wurde Budapest von russischen Tanks angesteuert. Aus allen Stadtteilen wurde Beschuss mit Leuchtspurmunition gemeldet.
Ministerpräsident Imre Nagy und sein Kabinett sollten verhaftet werden, in Szolnok stand eine Gegenregierung unter Führung des Parteisekretärs Janos Kadar bereit. Innerhalb von zehn Tagen wurde die ungarische Protestbewegung endgültig zerschlagen, einzelne Kämpfe im Gebirge dauerten noch bis in den Januar 1957.
Anfang 1956 hatten die Kremlherren das Ende des Stalinismus eingeleitet und vorsichtige politische Öffnungen verabredet. Parteisekretär Nikita Chruschtschow hatte sich, wie man heute weiß, hinter verschlossenen Türen in aller Form von Diktator Stalin und dessen Terror losgesagt.
Polnische und ungarische Bürger wollten mehr, als der kommunistische Weg zuließ. Eine genehmigte Demonstration Budapester Studenten am 23. Oktober 1956 sollte der Solidarität mit aufständischen Arbeitern in Warschau gelten. Daraus wurde eine Massenkundgebung, die Forderungen vor das Funkhaus trug und noch am selben Abend beschossen wurde. Die Demonstranten griffen zu den Waffen, die ihnen desertierende Soldaten überließen. Es kam zu Kämpfen. Die Russen waren zum Rückzug gezwungen.
Noch in derselben Nacht wurde der zuvor kaltgestellte Kommunistenführer Imre Nagy erneut zum Ministerpräsidenten berufen. Moskau glaubte, so den Aufstand eindämmen zu können. Aber Nagy wurde zur Leitfigur eines landesweiten Aufstandes - neben dem aus der Haft befreiten Kardinal Josef Mindszenty.
Als Nagy am 30. Oktober freie Wahlen zu einem Mehrparteiensystem ankündigte und den Austritt aus dem Warschauer Pakt erklärte, ging Chruschtschow zur harten Linie über. Innerhalb von zwei Tagen rollten russische Panzer bis zur Grenze Österreichs, das die Sowjetunion erst ein Jahr zuvor geräumt hatte.
Genau dort traf am 4. November 1956 die heute 80jährige Alexandra Baronin von Wrede ein. Die Urenkelin des ungarischen Reformers Istvan Szechenya (1781 - 1860) hatte schon 1947 ihr Vaterland verlassen, weil Liberale und Adel in Ungarn keine Chance mehr hatten. Die Nachricht vom politischen Frühling elektrisierte die Studentin im niederländischen Exil: »Wir wollten helfen, wir wollten unser geliebtes Vaterland wiedersehen und unsere lieben Angehörigen«, erinnert sie sich. Als die junge Frau am 4. November 1956 an der Grenze zu Ungarn ankam, war die Schranke verschlossen, strömten ihr erste Flüchtlinge entgegen. In wenigen Tagen wurden es 200 000.
»Man hörte Schreien, Schluchzen, Rufen. Frauen suchten ihre Männer, Mütter ihre Kinder«, schrieb sie später. Eine Mischung aus Verzweiflung und Wut habe sie mit ihren Landsleuten empfunden, sagt die Baronin heute im Rückblick. Verzweiflung, weil der politische Aufbruch im Keim erstickt wurde, Wut aber auch darüber, dass Amerika und der Westen seinen Worten von Freiheit und Solidarität doch keine Taten folgen ließen. Von Wrede: »Die dachten gar nicht daran, einzugreifen.«
Radio Freies Europa hatte die Aufständischen immer wieder zum Widerstand aufgerufen und die Hoffnung auf Hilfe des Westens genährt. Der in München installierte Propaganda-Sender der USA war einerseits verlässliche Informationsquelle, andererseits eine Riesen-Enttäuschung.
Erst jetzt wurde den Überlebenden des fürchterlichen Zweiten Weltkriegs klar, dass der Eiserne Vorhang Europa endgültig in zwei scharf getrennte Hälften aufteilte. Sowohl Ungarn, aber auch Polen, Tschechen, Rumänen und Bulgaren begriffen, dass es Mitteleuropa de facto nicht mehr gab - nur noch Ost- und Westeuropa.
Die staatenlose ungarische Gräfin war in diesen Tagen in größter Sorge um ihre Mutter und eine Schwester. Alexandra half an der Grenze wo sie konnte. Im Flüchtlingslager Traiskirchen bei Wien trafen in wenigen Tagen 5000 Menschen ein, auch einige wenige aus dem heimatlichen Oedenburg, darunter Alexandras alte Geschichtslehrerin. Aber keiner wusste, was mit den Angehörigen geschen war.
Erst Jahre später erfuhr sie, dass Mutter und Schwester die politischen Säuberungen mit 2300 Toten gottlob überstanden hatten, aber aus Budapest aufs Land zur Arbeit auf den Reisfeldern verbannt waren. Erst 1963 konnte die Mutter wegen Erreichens der Altersgrenze ausreisen. Tochter Alexandra war da bereits seit fünf Jahren in Willebadessen, wo sie heute als Baronin von Wrede lebt.

Artikel vom 04.11.2006