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»Es scheint so, als hätten die Menschen nach Argumenten gesucht, ihre Konsumlust endlich mal wieder auszuleben.«

Leitartikel
Mehrwertsteuer

Das Meiste
ist doch nur
Psychologie


Von Bernhard Hertlein
Lena Strothmann findet die verbreitete Furcht vor der Mehrwertsteuer-Erhöhung »aufgebauscht«. Das muss sie wohl so sehen, könnte man argumentieren. Schließlich ist die Frau nicht nur Präsidentin der Handwerkskammer Ostwestfalen-Lippe, sondern außerdem auch CDU-Bundestagsabgeordnete. Und in dieser Eigenschaft hat Lena Strothmann selbst bekanntlich für die Mehrwertsteuer-Erhöhung gestimmt.
Nichtsdestotrotz trifft die Damenschneiderin aus Isselhorst mit ihrer Aussage auf einen Kern Wahrheit. Zwar sind nicht alle Deutschen so wohlhabend, dass ihnen Mehrausgaben von drei Prozent nichts anhaben. Diejenigen, die wirklich den Cent drei Mal umdrehen müssen, werden aber dadurch entlastet, dass die meisten wirklich wichtigen Dinge - Lebensmittel, Tageszeitung, seltsamerweise nicht das Mineralwasser -Êvon der Erhöhung ausgenommen sind.
Und die anderen auch wichtigen Dinge wie Heizung, Haarschnitt, Hose, Sofa, Spielzeug, Automobil oder Urlaubsreise?
Die Wahrscheinlichkeit, dass sie am 1. Januar 2007 Schlag Mitternacht um genau drei Prozentpunkte teurer werden, ist sehr gering. Dagegen spricht allein schon die Verliebtheit des Einzelhandels in die so genannten »Eckpreislagen«. Es ist einfach undenkbar, dass die Tube Zahlpasta oder eine Dose Hundefutter statt 1,98 Euro künftig 2,04 Euro kosten werden.
Vielleicht wird ein bisschen an der ein oder anderen Verpackungsgröße experimentiert werden. Noch wahrscheinlicher aber ist, dass der Preis im Vorfeld, wenn die Verbraucher nicht so genau hinschauen, erhöht wird. In diesem Fall kann die Nicht-Weitergabe der Mehrwertsteuer-Erhöhung sogar noch als Marketing-Gag verwendet werden.
Als Kunde merkt man die Absicht und ist verstimmt. Oder man merkt es eben nicht und beteiligt sich an dem, was derzeit einige Beobachter schon als »Kaufrausch« bezeichnen. Objektiv lässt sich dieser nie und nimmer mit der bevorstehenden Mehrwertsteuer-Erhöhung begründen. Die Einkaufsstraßen und die Auftragsbücher der Bauhandwerker, beide übervoll, beweisen nur die Macht der Psychologie. Es scheint so, als hätten die Menschen nur nach Argumenten gesucht, ihre Konsumlust endlich mal wieder auszuleben. Die Super-Fußballweltmeisterschaft, das Super-Frühlingswetter mitten im Herbst und - als kleiner Zusatzkick - die Mehrwertsteuererhöhung liefern sie.
Bislang hat die Konjunktur noch jede Mehrwertsteuererhöhung mit einer kleinen Delle schnell verdaut. Es liegt wohl in der Natur des Deutschen, dass er an genau bezifferbaren Abgaben wie Pflegeversicherung und Solidarzuschlag weitaus länger knabbert.
Eine neue Heizung rechnet sich auch nach der Mehrwertsteuererhöhung. Ob sie tatsächlich weggesteckt wird und die Konjunktur nicht zum Erliegen bringt, hängt allerdings außer vom Arbeitsmarkt auch vom Glauben ab. Prognosen, die von einem längerfristigen Einbruch ausgehen, entwickeln sich heute angesichts der Macht der Psychologie leicht zur selbst erfüllenden Prophetie.

Artikel vom 01.11.2006