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Wort zum Reformationstag

Heute von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann

Hans-Jürgen Feldmann ist Pfarrer im Ruhestand.

Ursprünglich ging es Martin Luther nicht darum, die Kirche zu reformieren. Vielmehr bewegte ihn ausschließlich die Frage nach Gott. Zugleich war sie für ihn aber die Frage nach dem Heil: Wie finde ich als jemand, der eigentlich vor Gott nicht bestehen kann, in ihm meinen Retter? Wörtlich und sehr persönlich: »Wie kriege ich einen gnädigen Gott?«
Heute scheint es eher umgekehrt zu sein: Die evangelische Kirche verwendet oder verschwendet - so der Eindruck - zuviel Kraft auf Reformen und damit für Zweitrangiges: Zahlen, Finanzen, Gemeindestrukturen, Verschönerungen ihres äußeren Erscheinungsbildes, das Bestreben nach effektiverem Auftreten und andere Nebensächlichkeiten stehen allzusehr im Vordergrund.
Das aber dringt nicht tief genug. Es müßte statt dessen vor allem um den Inhalt gehen und nicht um die Verpackung. Was ist der unverzichtbare und unverwechselbare Gehalt einer evangelischen Predigt? Worin ist die Kirche in dieser Welt unvertretbar? Was kann sie nicht an andere Stellen delegieren? Sie ist ja nicht um ihrer selbst willen da, sondern hat den Glauben weiterzugeben, zu Christus zu rufen, zur Quelle des Lebens einzuladen, damit Gott nicht in Vergessenheit gerät und das Leben nicht verödet.
Luther dachte immer vom Fundament, von den Wurzeln und vom Geist Gottes her. Daher schreibt er in den Erläuterungen zu den 95 Thesen gegen den Ablaßhandel: »Die Kirche bedarf der Reformation. Aber es ist nicht Sache eines einzelnen Menschen, des Papstes, auch nicht vieler Kardinäle, sondern Sache des ganzen Erdkreises, nein, Gottes allein. Die Zeit aber dieser Reformation weiß allein der, der die Zeiten geschaffen hat.« So paradox es klingt: Weil es ihm in erster Linie um Gott ging und um den Glauben und eben nicht hauptsächlich um die Kirche, konnte er die Kirche reformieren, nämlich die Türen dafür öffnen, daß Gottes Geist selbst in sie einziehe.
Das aber müssen auch wir von Grund auf neu durchbuchstabieren, bevor sich die Kirche auch in unserer Zeit wieder beleben und mit lebendigem und frischem Geist erfüllen kann. Alles andere erschöpft sich in Kosmetik und Kurieren von Symptomen. Denn die Kirche kann Menschen nur durch ihre Botschaft gewinnen und durch sonst gar nichts. Alle anderen Versuche gründen in Selbstbetrug und enden in der Enttäuschung.
»Wie kriege ich einen gnädigen Gott?« Das war Luthers entscheidende Ausgangsfrage, und von ihrer Antwort - im Glauben an Jesus Christus - nahm die Reformation ihren Ausgang. Für Luther und seine Zeit stellte sich die Frage nach dem gnädigen Gott vor allem angesichts des Jüngsten Gerichts, in dem Gott sein abschließendes Urteil über das ganze Leben eines Menschen spricht.
Heute scheint sich diese Perspektive verschoben zu haben. Vielleicht ist es eine Folge der Reformation und ihrer wiederentdeckten Botschaft von der allem zuvorkommenden Gnade Gottes in Jesus Christus und seiner bedingungslosen Liebe, daß die Aussicht auf das Gottesgericht die meisten Menschen nicht mehr zittern läßt, ja viele sogar überhaupt nicht mehr beschäftigt. Aber die Frage ist damit nicht erledigt. Sie hat sich nur in das irdische und zeitliche Dasein hineinverlagert.
Denn auch die Menschen der Gegenwart läßt es nicht kalt, ob sich ihre Jahre insgesamt zu etwas Gutem fügen, oder ob sie ihre Zeit und ihre Möglichkeiten vergeudet haben und vielleicht insgesamt ins Minus geraten sind. Es geht auch heute darum, daß sich unser Leben sinnvoll gestaltet, daß wir die Hoffnung nicht verlieren und daß uns insgesamt Angst abgenommen wird. Das aber hängt nicht vom Gehaltsstreifen oder der sozialen Stellung ab und auch nicht vom Aussehen oder der Anerkennung durch andere Menschen. Es liegt allein darin begründet, ob es gelingt, Gott zu vertrauen und zu wissen: Er ist da, er trägt mich, er rechnet nicht auf, und er hält mich - auch in den schlimmen Erfahrungen meines Lebens.

Artikel vom 31.10.2006