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Im Tal der Tränen -
Mütter mit Depression
Baby Blues -ÊHeultage, PPD oder Wochenbettpsychose?

Auch wenn Frauen sich gut auf die Mutterrolle vorbereitet glauben, können sie nach der Geburt ihres Kindes von ihren Gefühlen und Emotionen noch völlig überrascht werden. Anstatt seliger Freude und fröhlichem Mutterglück machen sich mehr und mehr zwiespältige Gefühle und dunkle Gedanken breit und es kommt nicht selten zu einem wahren Absturz vom Gipfel des Hochgefühls ins bittere Tal der Tränen.
Prof. Dr. Stefan Niesert, Direktor der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe des Elisabeth-Krankenhauses Essen: »Nach einer Entbindung können bei Frauen unterschiedlich stark ausgeprägte psychische Störungen auftreten, die in drei Kategorien einteilbar sind. Zur ersten Gruppe gehört der so genannte Baby Blues, umgangssprachlich auch als ÝHeultageÜ bekannt. Dabei handelt es sich um depressive Stimmungsschwankungen, die in den ersten zehn Tagen nach der Geburt auftreten können. Ein harmloses und relativ normales kurzfristiges Tief, von dem etwa 50 bis 80 Prozent aller Mütter nach der Geburt betroffen sind. Die Frauen leiden häufig unter Weinattacken und plötzlich auftretender Traurigkeit, Müdigkeits- und Erschöpfungszuständen und Stimmungsschwankungen, können aber trotzdem ihren normalen alltäglichen Verpflichtungen nachgehen. Hier helfen vor allem Verständnis, Zuwendung und Geduld die kurze Krise zu bewältigen.«
Wenn sich die Beschwerden jedoch verschlimmern und nach etwa zwei Wochen nicht verschwunden sind, könnte sich auch eine schwerwiegendere Depression entwickelt haben. »Zur zweiten Kategorie gehört die Wochenbettdepression oder auch postpartale Depression, kurz PPD genannt«, so Prof. Niesert. »Abgeleitet vom lateinischen ÝpostÜ (nach) und ÝpartusÜ (Geburt oder Entbindung). Das charakteristische an dieser Depression ist: Sie kann jederzeit, sogar noch bis zu einem Jahr nach der Geburt auftreten. Etwa jede zehnte Frau entwickelt eine postpartale Depression. Sie beginnt meist schleichend, langsam und unbemerkt, und geht mit einer großen Müdigkeit einher.«
»Die Frauen leiden unter Zwangsgedanken, beispielsweise ihr Kind nicht oder nicht genug zu lieben. Sie haben das Gefühl der absoluten Überforderung und massive Schuldgefühle und Ängste, dem Neugeborenen etwas gewollt oder ungewollt anzutun. Manche tragen sich sogar mit Suizidgedanken. Panik-Attacken wechseln sich mit völliger innerer Leere ab. Die Frauen sind lethargisch, manchmal auch überdreht. Viele Frauen fühlen sich schuldig oder sind beschämt und verschweigen ihre Sorgen und Probleme vor dem Partner und der Familie aus Angst, nicht ernst genommen zu werden. Die postpartale Depression muss unbedingt therapeutisch oder medizinisch behandelt werden.«
Die schwerste Form der psychischen Erkrankungen nach einer Entbindung ist die Wochenbettpsychose. Sie kann manisch, depressiv, schizophren oder als Mischform auftreten. Prof. Niesert: »Eine Wochenbettpsychose kann mit dem Geburtserlebnis selbst oder wenige Tage nach der Entbindung beginnen. Kennzeichnend ist der absolute Realitätsverlust der betroffenen Frauen. Es kommt zu Störungen im formalen Denken, Verfolgungswahn, Halluzinationen und zu Suizid- und Tötungsgedanken der Mutter ihrem Kind gegenüber. Die Frauen haben jeden Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Beim schizophrenen Krankheitsbild treten Halluzinationen und Wahnvorstellungen auf. Meist ist zur Behandlung ein stationärer Aufenthalt zwingend notwendig. Wichtig dabei: Mutter und Kind sollten während des Klinikaufenthaltes nicht getrennt werden. Denn ein Bestandteil der Erkrankung ist die gestörte Beziehung zwischen Mutter und Kind. Und die gilt es für die Zukunft wieder zu festigen und zu sichern.«
Die Übergänge vom Baby Blues zur manifesten Psychose sind fließend. »Grundsätzlich kann man sagen, dass alle Frauen gefährdet sind. Egal ob Wunschkind oder ungewollt schwanger«, so Prof. Niesert. »Ein auslösendes Moment ist der sehr abrupte Hormonabfall nach der Entbindung. Wichtig ist, die Frauen sollten sich weder schämen noch scheuen, medizinische Hilfe zu suchen. Angehörige sollten die Frauen und ihre möglichen Probleme nach der Geburt ernst nehmen. Früh diagnostiziert, lassen sich postpartale Depressionen sehr gut behandeln.«

Artikel vom 24.11.2006