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Ein paar »Einzelfälle« zu viel

Schändungen von Totenschädeln rücken die Bundeswehr ins Zwielicht

Von Gerd Reuter
Berlin (dpa). Es sind ein paar »Einzelfälle« zu viel. Die Totenschänder von Afghanistan sind keine kleine Gruppe mehr, und nicht nur der Grüne Hans-Christian Ströbele vermutet, dass es »hunderte« so widerwärtige wie obszöne Bilder gibt.

Im Verteidigungsministerium trafen sich am Freitag hohe Offiziere mit Ressortchef Franz Josef Jung (CDU), um die inzwischen dritte Fotoserie zu analysieren.
Fast verwundert es, dass noch niemand nach politischen Konsequenzen ruft, sonst ein wohlfeiles Instrument, um Kritiker zumindest vorläufig ruhig zu stellen. Jung wäre aus dem Schneider, weil er zum fraglichen Zeitpunkt - den Jahren 2003 und 2004 - noch in Hessen Landespolitik betrieb.
Mit jedem neuen Bild wird das Ansehen der Bundeswehr im In- und Ausland mehr beschädigt. Immer stärker geht es aber nicht nur um das Erscheinungsbild der Streitkräfte, sondern auch um die Furcht, dass die Bilder in islamischen Ländern Hass schüren könnten.
Mehr als 200 000 deutsche Soldaten haben in den letzten Jahren kurz- oder langfristig ihren Dienst ohne Fehl und Tadel im Ausland versehen, haben »Deutschland am Hindukusch verteidigt« oder in anderen Teilen der Welt zur Friedensstiftung beigetragen. Aber die Bundeswehr ist auch das Spiegelbild der Gesellschaft, und Fehlleistungen Einzelner werden ganzen Gruppen zur Last gelegt.
Allerdings gibt es Unterschiede: Soldaten werden auf ihren Einsatz im Ausland vorbereitet, damit sie fremde Kulturen verstehen und auf unterschiedliche Befindlichkeiten Rücksicht nehmen. Posieren mit Totenschädeln und das Stören der Totenruhe werden in jeder Kultur verachtet. Angstvoll hoffen Jung und seine Führungsoffiziere, allen voran Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan, dass sich unter den Beteiligten kein Offizier befindet oder ein Kompaniechef das makabre Treiben kannte und verschwiegen hat.
»Ich glaube, dass ich mit der Beurteilung nach wie vor recht habe, dass wir nicht die Sorge haben müssen, dass es sozusagen in ein ganzes Einsatzkontingent hineingewirkt hat«, sagte der Vier-Sterne-General Schneiderhan. Es seien Einzelne, die fehlgeleitet seien. Unnachsichtig und schonungslos werde ermittelt, und alle Ränge hätten im Schuldfall die Konsequenzen zu tragen.
Neben »Abscheu und Empörung« - in der Politik ein gern benutzter Begriff - wird eine schnelle Überprüfung der Ausbildungsrichtlinien gefordert. Ein dem Generalinspekteur unterstehender und für Bildung zuständiger Brigadegeneral soll noch am Wochenende nach Afghanistan reisen, auch um sich um die Moral der Truppe zu kümmern. »Jedes Foto ist eines zu viel, jeder Fall ist einer zu viel«, sagte der stellvertretende Regierungssprecher Thomas Steg.
Viele haben noch keine endgültige Antwort auf die Frage, was die jungen Soldaten zu den Taten getrieben hat und was in ihren Köpfen vor sich ging. Einer, der angeblich dabei war, aber anonym bleiben will, bereut und sprach von Gruppenzwang. Experten aus den Bereichen forensische Medizin und Psychologie sagen, die Totenschänder hätten sich in Deutschland niemals so verhalten, selbst nicht in alkoholisiertem Zustand.
Der Bundeswehr-Truppenpsychologe Bernd Völkel erklärt sich die Vorgänge zum Teil mit der Furcht der Soldaten vor dem eigenen Tod. »Gerade der Umgang mit Knochen konfrontiert mit dem Thema Tod«, sagte er. »Ursachen können nichtbewältigte Belastungs- und Stresssituationen und Gruppenzwang sein.« Ein einzelner Soldat würde das nie tun. Für die Bundeswehr mag das die Vorgänge verständlicher machen, es ändert aber nichts an dem Ansehensverlust.

Artikel vom 28.10.2006