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George Orwell
(1903 - 1950)

»Freiheit bedeutet vor allem das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.«

Leitartikel
Soldaten und Salonredner

Wenn Todesangst
Ventile sucht


Von Rolf Dressler
Nur den Älteren unter uns stehen noch die entsetzlichen Leichen- und Skelett-Berge vor Augen, die der finstere Schlächter Pol Pot und seine ultrakommunistischen Mord- und Totschlag-Schwadrone vor bald 40 Jahren in Kambodscha hinterließen. Schre- ckensbilanz 2,6 Millionen Tote.
Das Vietnam-Verlierer-Trauma wirkt bis heute in ungezählten Amerikanern unauslöschlich nach. Schon bald darauf erlebte die ruhmreiche und vermeintlich unbesiegbare Sowjet-Armee ihr Waterloo in Afghanistan, völlig demoralisiert und schließlich aufgerieben im Zermürbungskampf mit einheimischen Guerilla-Stammeskämpfern, die zudem namentlich von den USA mit reichlich Kriegsgerät versorgt worden waren.
Mit gleichfalls enormer Brutalität wüteten in Afghanistan die Taliban. Nun wittern sie sogar wieder Morgenluft, rüsten insgeheim schon für den Tag, an dem sie die Herrschaft über das Land erneut an sich zu reißen hoffen. Und fast verloren mittendrin in diesem Pulverfass (auch) das vergleichsweise winzige Häuflein unserer deutschen Bundeswehrsoldaten.
Längst haben zivile Helfer in T-Shirts den hochexplosiven Boden Afghanistans resigniert verlassen. Doch selbst Soldaten in Blei-Schutzwesten können sich höchstens ein paar Meter weiter hinauswagen.
Unvorstellbar sind daher die psychischen und seelischen Belastungen. Nackte Dauerangst buchstäblich auf Schritt und Tritt, schon bei Tag und bei Nacht erst recht. Nur Salon-Klugredner behaupten, auf so etwas könne und müsse man Soldaten eben beizeiten hintrainieren - mental, psychologisch, charakterlich. Das aber wird auch durch ständige Wiederholung nicht wahrer.
Zumal wenn sie von Leuten kommt, die dieselbe Bundeswehr, die sie vorgestern noch für entbehrlich erklärt hatten, hernach ungeniert als Friedensfestiger nach Afrika und an den Hindukusch entsandt sehen wollten.
Dieser Einsatz im politisch wie geographisch tief zerklüfteten Afghanistan ist im Empfinden unserer Soldaten wie der anderer Na- tionalitäten hart an der Schwelle zum Himmelfahrtskommando. Und ausgerechnet dort, in einem völlig unbekannten Kulturumfeld, fernab unserer »westlichen« Vorstellungen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Religions- und Glaubensfreiheit sollen sie für wildfremde Menschen die Kastanien aus dem Feuer holen? Wofür dieser Aufwand, wenn diejenigen, denen man helfen möchte, mit aller Gewalt und heimtückischem Terror dagegen anrennen, »ungläubige« Andersgläubige massenhaft massakrieren, köpfen oder sonstwie hinmorden?
Das steht zwar nicht auf einer Stufe mit den aktuellen Verfehlungen einiger weniger Soldaten. Gleichwohl sind sie schändlich und müssen geahndet werden.
Zumindest in Teilen aber sind sie menschlich erklärbar. Denn wer beinahe rund um die Uhr um Leib und Leben fürchtet und Todesängste empfindet, wandelt im Innersten auf äußerst schmalem Grat - und greift in seiner Not womöglich zum falschen »Ventil«.

Artikel vom 28.10.2006