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Sind wir wirklich so degeneriert?

Uraufführung des Körpertheater-Stücks »Double« im Theaterlabor

Von Uta Jostwerner
Bielefeld (WB). Sie zappeln und strampeln, sie zucken und winden sich. Glaubt man dem Bühnengeschehen von »Double«, dann besteht die Welt aus lauter Neurotikern. In extremer Körpersprache und unter psychedelischer Klangkulisse erkundet die neue Produktion des Theaterlabors die Befindlichkeiten des Individuums in der Gesellschaft. Zugrunde liegen ihr die Gedanken des von Antonin Artaud postulierten »Theaters der Grausamkeiten«.

Artaud (1896 - 1948), französischer Theaterrevolutionär, propagierte eine Idee von einem Theater des Mangels und der Krise. In dieser Formgebung sollten Text, Sprache und Bewegung auf der Bühne keine suggestive Einheit mehr bilden. Vielmehr wollte Artaud die zentrale Rolle des Textes im Theater mindern und dafür sorgen, dass die Aufführung, also das Spektakel der Inszenierung, in den Vordergrund rückte.
Statt dessen gab Artaud dem Körper als Ausdrucksmittel den Vorzug. Die Eigenmächtigkeit von Zeichen wie einer bestimmten Gestik oder Mimik, eines Kostüms oder nur dem Auftreten eines Körpers an sich war für seine Theatertheorie wichtig. Aggressionen und Wünsche sollten durch solche körperlichen Zeichen dargestellt werden.
Ferner stellte eine Aufführung für Artaud keine Mimesis, also Nachahmung der Wirklichkeit, dar, sondern war eine Wirklichkeit für sich.
Ohne entsprechendes Hintergrundwissen über die Postulate des Theatervisionärs Artaud ist es womöglich nicht so einfach, einen Zugang zu der von Theaterlaborleiter Siegmar Schröder und Choreograf Ivo Ismael (Leiter der Tanzbiennale Venedig) inszenierten Uraufführung zu finden, in der die Sprache zugunsten des Körperausdrucks in den Hintergrund rückt und Texte lediglich fragmentarisch und ohne scheinbaren Zusammenhang das Stück durchziehen. Sie lassen ansatzweise erkennen, dass es um eine Theaterphilosophie geht, die gegen den Protagonisten auf der Bühne selbst grausam ist und ihm körperliche Extreme und Entblößung abverlangt. Dies alles, um die Aufmerksamkeit und Sensibilität des Publikums zu erlangen.
Für die Schauspieler bedeutet dies körperliche Schwerstarbeit. Auf kargem Spielfeld werden über eineinhalb Stunden Bewegungsfolgen exzentrisch gesteigert, manische Ausbrüche und Verhaltensweisen ständig wiederholt. Wir sehen Kreaturen, die sich überwiegend neurotisch krankhaft gegeneinander verhalten, wir sehen lose Kräfte walten, Aggressionen, wenig Zuwendung und Trost.
Der kommt in Form einer überraschenden Pause, in der die Schauspieler den Zuschauern Rotwein reichen und Geschichten über Artaud oder ihr Leben erzählen. Denn merke: Artaud postulierte ebenso die Aufhebung der Grenze zwischen Darstellern und Publikum.
Sie bietet den Schauspielern eine kurze Verschnaufpause, ehe es zum großen Showdown geht, einer aberwitzigen Wasserschlacht die erschöpfte, erbarmungswürdige Kreaturen zurücklässt, die alles gegeben haben. Obwohl oder gerade damit sich der Zuschauer am Ende fragt: Wofür?
Atmosphärische Dichte erlangt das Stück durch die Musik von Karl Godejohann (Schlagzeug) und Willem Schulz (Cello). Sie gibt Impulse vor, treibt an und verstärkt in ihrer mechanisch industriell geprägten Geräuschhaftigkeit den Eindruck von Unwohlsein.
Auch der Gesamteindruck von »Double« lässt ein Gefühl von Unbehagen zurück und die Frage: Sind wir wirklich so degeneriert?
Weitere Aufführungen am heutigen Samstag, 20 Uhr.

Artikel vom 28.10.2006