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Wort zum Sonntag

Heute von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann

Hans-Jürgen Feldmann ist Pfarrer im Ruhestand.

Wann hat man das je erlebt - Schlange stehen vor Beginn eines Gottesdienstes? Das gibt es doch gar nicht! Doch, so etwas gibt es tatsächlich, und noch dazu an einem ganz normalen Sonntag, nicht etwa zu Heiligabend oder bei einem herausragenden festlichen Anlaß. Der 15. Oktober dieses Jahres war dafür ein Beispiel. Wer es außerdem noch auf einen der besseren Plätze abgesehen hatte, musste sich früh anstellen. Dabei ist die Kirche nicht eben klein, sondern nimmt - Stehplätze nicht mitgerechnet - rund 2000 Personen bequem in sich auf. Die meisten Pastoren können von so etwas nur träumen - auch nach sehr langer Amtszeit.
Leider ist die Rede nicht von Bielefeld oder von Ostwestfalen. Das ist schade. Die Rede ist vielmehr von den neuen Bundesländern, und das ist erfreulich. Denn die atheistische und religionsfeindliche Politik der Kommunisten hat die Entkirchlichung und Entchristlichung dort sehr viel stärker vorangetrieben, als das in Westdeutschland der Fall ist. Da tut eine Auffrischung gut.
Seit fast genau einem Jahr werden in der wieder erstandenen Dresdner Frauenkirche sonntags Gottesdienste gefeiert. Dazu kommen die regelmäßigen Mittags- und Abendandachten an den Wochentagen, und außerdem gibt es Konzerte und Vorträge zu geistlichen Themen. Der Zuspruch ist generell ganz enorm. Genau so war es auch beim Gottesdienst am 15. Oktober.
Pessimisten und Kritikaster werden nun sofort Wasser in den Wein zu gießen versuchen und einwenden, es handele sich eben um die Frauenkirche, also um eine Ausnahme. Als architektonisches Juwel wirke sie aufgrund ihrer traurigen Geschichte und um der besonderen Umstände ihres Wiederaufbaus willen eben wie ein Magnet. So etwas ließe sich nun einmal nicht verallgemeinern.
Schon wahr, und doch bleibt es erstaunlich, daß Sonntag für Sonntag eine riesige Menschenmenge herbeiströmt, um am Gottesdienst teilzunehmen, und sich nicht etwa mit der bequemeren Möglichkeit begnügt, das Gebäude lediglich zu besichtigen. Da dies nun schon seit einem Jahr anhält, kann es wohl auch nicht nur mit dem Reiz des Neuen erklärt und abgetan werden.
Vermutlich vermittelt die Frauenkirche selbst etwas von der Funktion, für die sie geschaffen wurde, und von dem Sinn, welchen sie verkörpert. Die Menschen mögen es spüren, daß sie erst dann wirklich in ihr angekommen sind, wenn sie in ihr, gemeinsam mit anderen, die heiligen Geheimnisse feiern und nicht nur irgendwie anwesend sind.
Wer am 15. Oktober in Dresden war, konnte einen großartigen Gottesdienst mit prächtiger Kirchenmusik und eindringlicher Verkündigung erleben. Die Predigt war für jedermann verständlich und verlangte keine Vorkenntnisse. Zugleich aber war sie gehaltvoll und ging in die Tiefe.
An einer Stelle setzte sie sich mit der wohl auch in Dresden häufig zu hörenden Äußerung auseinander, daß es vermutlich vor allem Touristen seien, die die Frauenkirche Sonntag für Sonntag bis zu den höchsten Emporen füllen. Eine solche Meinung lebt immer auch von der Unterstellung, den so zusammengewürfelten Besuchern ginge es vielleicht doch nicht so richtig und ausschließlich um die Sache. Sie nähmen vielleicht nur am Gottesdienst teil, um einmal das Bauwerk als Kirche zu erleben.
Der Prediger riet dazu, sich solch eines Urteils lieber zu enthalten. Denn in den seltensten Fällen sind die Motive eines Menschen ganz rein und frei von Nebengedanken. Das gilt auch auf anderen Gebieten, und das gilt auch für »ernsthafte« Gottesdienstbesuchern. In einer Kirche aber zählt sehr viel weniger, aus welchen Gründen die Leute kommen. Wichtiger ist, was mit ihnen und in ihnen in der Kirche geschieht.

Artikel vom 28.10.2006