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Wissenschaft erfährt
Druck zur Nützlichkeit

Neue ZiF-Forschungsgruppe tagt erstmals


Von Sabine Schulze
Bielefeld (WB). Peter Weingart sieht die Freiheit der Forschung nicht in Gefahr. Dass Forschung aber zunehmend nützlich zu sein hat, dass der Anwendungsdruck steigt und Zeit immer knapper wird - das allerdings ist ein Befund, den der Soziologieprofessor mit Sorge betrachtet. »Das Klima innerhalb der Wissenschaft ändert sich - und nicht zum Besseren.«
Prof. Dr. Peter Weingart leitet gemeinsam mit den Bielefelder Wissenschaftlern Prof. Dr. Martin Carrier (Philosophie) und Prof. Dr. Wolfgang Krohn (Soziologie) sowie mit den Kollegen Alfred Nordmann (Darmstadt) und Gregor Schiemann (Wuppertal) die Eröffnungstagung der neuen ZiF-Forschungsgruppe. 44 Teilnehmer aus dem In- und Ausland befassen sich mit »Wissenschaft im Anwendungskontext«.
Ein Jahr lang werden sie sich im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität mit der zunehmenden Verflechtung der Wissenschaft mit Politik und Wirtschaft befassen. Sie wollen Fragen der Überparteilichkeit und Glaubwürdigkeit erörtern, und sie analysieren neue ethische Herausforderungen, die der Fortschritt in Molekularbiologie, Biomedizin und Nanowissenschaften womöglich mit sich bringt. Themen sind ferner die institutionellen Rahmenbedingungen und die Kontrolle der Wissenschaft.
Weingart akzeptiert durchaus eine nutzenorientierte Wissenschaft, denn Forschung um der Forschung willen sei auf Dauer nicht zu finanzieren. »Die Frage ist aber, inwieweit sich eine Gesellschaft eine freie Grundlagenforschung leistet - von der man sich ja ein Innovationspotential erhofft.« Kurzfristige Nützlichkeitserwartungen würden zu einer Oberflächlichkeit des Urteils führen und letztlich auch den Erkenntnisanspruch der Wissenschaft gefährden, kritisieren die Leiter der Forschungsgruppe. »Der Zeithorizont der Forschung ist ein anderer als der in Politik und Wirtschaft«, formuliert es Weingart.
Dass aufgrund des Zeitdrucks gehudelt werde, fürchtet er nicht: »Selbst wenn der schnelle Erfolg verlangt ist: Hudeln wird in der Regel schnell herauskommen - wenn nämlich das Wissen nicht umgesetzt werden kann.« Aber so, wie die Gesellschaft Ansprüche an die Wissenschaft formuliere, so gehe umgekehrt auch von der Wissenschaft ein Veränderungsdruck aus. Während die Naturwissenschaften als Motor der Innovation gelten, seien gerade die Sozialwissenschaften in der Gefahr, politisiert zu werden, meint der Soziologe.
Dass sich die Öffentlichkeit für Erkenntnisse der Forschung interessiert und eine gewisse Kontrolle stattfindet, hält Weingart für richtig. »Es geht ja nicht darum, einen Kontrolleur neben den Genetiker oder Chemiker zu setzen. Aber es geht schon um Rechenschaft, um die Beantwortung von Fragen.« Der Soziologe hält wenig davon, sich abzuschotten, zumal bestimmte ethische Fragen - wie zum Beispiel die Stammzellenforschung - auch im gesellschaftlichen Konsens entschieden werden sollten. Dass dazu oft Wissen nötig ist, gesteht er zu. »Zumindest über ihre politischen Repräsentanten aber sollte die Bevölkerung über die Dinge befinden.«
Darüber hinaus ist er überzeugt, dass sich jeder informieren kann, der will. »Aber eine Kluft wird bleiben, weil die Wissenschaft immer abstrakter und komplexer wird.« Wie öffentliche Kontrolle zuzulassen ist und zugleich die Objektivität der Wissenschaft geschützt wird - auch das wollen Soziologen, Philosophen, Wissenschaftshistoriker und im Verlauf des Forschungsjahres auch die vor allem betroffenen Naturwissenschaftler diskutieren.

Artikel vom 27.10.2006