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Suchtexperten nicht total verkatert

Europäische Alkoholstrategie zwar verwässert, aber nicht ohne Wirkung

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). Wenig begeistert über die sehr vage europäische Alkoholstrategie zeigte sich gestern die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen in Hamm. »Aber wir sind froh, dass so umfassend wie noch nie in Deutschland über Alkoholschäden gesprochen wird«, sagte deren EU-Experte Walter Farke.

Neun Prozent der Erkrankungen in Europa sind Folge des Alkohols. Dazu gehören Leberzirrhose, einige Krebsarten und Missbildungen. Die grüne Europa-Abgeordnete Hiltrud Breyer beklagt »horrende Kosten von 250 Milliarden Euro durch alkoholbedingte Krankheiten.« Allein die deutsche Volkswirtschaft werde mit 20 Milliarden belastet.
Die Alkoholindustrie habe in den vergangenen Monaten, so Gesundheitskommissar Markos Kyprianous in Straßburg, »mit überraschender Heftigkeit nicht nur versucht, Einfluss auf unser Papier zu nehmen, sondern uns ständig Absichten untergeschoben, die wir niemals hatten«. So sei behauptet worden, die Kommission plane ein Werbeverbot und eine einheitliche Altersgrenze von 18 Jahren für den Kauf alkoholischer Getränke. Völliger Unsinn sei das, schimpfte der Zypriote.
Das ist nicht ganz richtig, wie Suchtexperte Farke beobachtet hat. In der allerersten Fassung der EU-Strategie seien sehr wohl jene harten Vorschläge erwähnt gewesen, gegen die Europas Brauer, Winzer, Brenner und Abfüller Sturm liefen.
Die von der Lobby gefürchtete Heraufsetzung des Mindestalters für Erwerb und Konsum von Alkohol und auch die glasklare Null-Promille-Grenze für Fahranfänger und alle Berufskraftfahrer seien anfangs dabei gewesen.
In der nunmehr offiziellen Endfassung des Papiers »stellt sich vieles sehr viel vager dar«, sagte auch die SPD-Europaabgeordnete Mechtild Rothe (SPD) aus Bad Lippspringe. Jetzt heißt es, die Mitgliedsstaaten sollten versuchen, per nationaler Gesetzgebung »unter 0,5 bis zu null Promille« zu kommen. Aus den gefürchteten Warnhinweisen - wie auf Zigarettenpackungen - ist lediglich eine Anregung zur Information Schwangerer geworden. Farke: »Die lässt sich im Kleingedruckten des Etiketts verstecken«.
Interessant: Durchgekommen sei die »Schulung zu verantwortungsvollem Ausschank«, so Farke weiter: »Das ist aber auch Hoheitsgebiet der Brauereien, die wollen ihre Leute im Umgang mit Betrunkenen schulen.« Einigkeit besteht zwischen Suchtexperten und Industrie auch in der Bekämpfung von Kampfpreisen für so genanntes Kampftrinken. »Saufen bis der Arzt kommt«, hatte Farke jüngst noch auf einem Plakat in der hiesigen Gegend gelesen.
An zu vielen Stellen entdeckte der Sucht-Fachmann bei der genauen Prüfung des EU-Papiers gestern noch die Handschrift der Industrie. So sei es der Lobby gelungen, die alte Mär von der Prävention des Herzinfarkts durch regelmäßigen Rotwein-Konsum in dem Dokument unterzubringen. Richtig sei, dass sehr geringe Mengen Alkohol diese Wirkung bis zu einem bestimmten Lebensalter tatsächlich haben könnten. »Wird die Schwelle nur ganz leicht überschritten, schlägt die Wirkung voll in ihr Gegenteil um.«
Trotz des schalen Beigeschmacks sind die Suchtexperten in Hamm nicht total verkatert am Morgen danach. »Wir haben endlich ein Papier, dass es uns erlaubt, auf vielen Gebieten gegen die Volksdroge Alkohol anzugehen.« Vielleicht gelinge es sogar, den Alkohol noch in der nationalen Initiative »Tabakkauf erst mit 18« unterzubringen.
Eine nationale Null-Promille-Grenze für Fahranfänger, aber nicht für Berufsfahrer, ist nach Einschätzung von Sabine Bätzing (SPD), der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, auch in Sicht. Schon 2007 könnte die zweijährige Total-Abstinenz für Fahranfänger jeden Alters kommen. Kommentar

Artikel vom 26.10.2006