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Tausende verneigen sich vor Platz 1 589

Triathlon: Jürgen Klitzkes qualvoller Weg ins Ziel - »Mein Gott, wie soll das nur enden?«


Von Hans-Heinrich Sellmann
Bielefeld (WB). Den ganzen Tag hat sie ihn gequält, doch jetzt - kurz vor dem Ziel seiner Träume - strahlt sie nicht mehr. Seit einer halben Ewigkeit ist die Sonne am zwischenzeitlich unerreichbar erscheinenden Horizont verschwunden. Als Jürgen Klitzke auf den Alii Drive in Kailua Kona einbiegt, ist es stockfinster. Der 55-jährige Steinhagener geht. Kein Gedanke mehr an einen Marathon-»Lauf« - nur daran, dass die dritte und letzte, besonders schmerzhafte Etappe des Ironman-Triathlons auf Hawaii gleich vorbei ist.
Vor weit mehr als 15 Stunden ist er zusammen mit 1800 ausgewählten »Eisenmännern« gegenüber in der Kailua Bay aufgebrochen. Schon vor dem Sprung ins Wasser war ihm alles andere als wohl im Bauch. Zu dem noch nicht ganz ausgeheilten Schlüsselbeinbruch waren Kreislaufstörungen gekommen. Morgens hatte er brechend im Bett seines Hotelzimmers gesessen. »Da stand ernsthaft der Start auf dem Spiel. Die nervliche Anspannung war unvorstellbar.« In der Woche vor der Weltmeisterschaft ist Big Island im Ausnahmezustand: »Triathlon, Triathlon, Triathlon. Die ganze Zeit hörst du von nichts anderem.«
Unterwegs, auf der 3800 Meter langen Schwimmstrecke, kommt es noch schlimmer. »Eine einzige Katastrophe. Die vielen Strömungen waren für mich schlechten Schwimmer Gift. Und dann diese Schmerzen.« Vorne pflügen der spätere Sieger Normann Stadler und all'die anderen beinahe doppelt so schnell durch den Pazifik, während Klitzke schon jetzt nur noch daran denkt, irgendwie anzukommen. »Langsam angehen lassen und bloß nirgends stehen bleiben«, lautet die Devise für den Radsplit. Doch das ist leichter gedacht als getan. »Wenn du 20 km/h auf dem Tacho hast, wo du eigentlich 35 drauf haben müsstest, geht das richtig an die Nerven.« Der Wind ist in der Einöde ständiger Begleiter und ärgster Verfolger. In einigen Böen kann sich Klitzke nicht mehr auf dem Oberlenkrad halten.
Als Normann Stadler im Ziel das erste Siegerinterview gibt, geht für Jürgen Klitzke die Tortour erst richtig los: Marathon - 42,195 Kilometer - laufen. Klitzke versucht's erstmal mit joggen. »Ich hab' aber gleich gemerkt: Da geht nichts.« Nach gefühlten fünf oder sechs Kilometern fängt er sich zwar wieder, läuft sogar die eine oder andere Passage, ehe nach knapp einem Viertel der Strecke alles aus zu sein scheint.
Jürgen Klitzke beginnt zu gehen, spürt bei jedem Schritt jede neue Blase an den Füßen: »Mein Gott. Wie soll das enden?« 4:19 kann er, fast sechseinhalb Stunden sollen es am Ende werden. Einige »Wanderkollegen« gesellen sich zu ihm, am Straßenrand steht Ehefrau Annegret. »Vor 23 Uhr bin ich bestimmt nicht im Ziel«, ruft ihr Mann und geht seinen Weg weiter: »Denn so eine Chance gibt's möglicherweise nicht noch mal.«
Warum tut er das? Warum steigt er nicht zu den vielen anderen in den Bus? Im Ziel bekommt er die Antwort - aus Tausenden von Kehlen. Zuschauermassen feiern eine wilde Ironman-Party, toben, sobald sie einen weiteren Finisher erkennen - egal ob auf Platz eins oder 1589. »Die begrüßen dich wie einen echten ÝHeroÜ« - wie einen Helden. Jürgen Klitzke ist einer.

Artikel vom 26.10.2006