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Fluchten und Freiheiten

Walter Kempowski legt Roman »Alles umsonst« vor

Von Hartmut Horstmann
Bielefeld (WB). Lange Zeit war die Flucht der Deutschen vor der Roten Armee ein Tabuthema - besetzt von scheinbar Unverbesserlichen, von ewig Gestrigen.
Großer Erzähler: Walter Kempowski.Foto: dpa

Derartige Klischees und Denkverbote haben den Autor Walter Kempowski zwar stets interessiert, doch haben sie ihn niemals von seinem Weg abbringen können. Mit dem blutigen Thema Vertreibung beschäftigt er sich in seinem neuen Roman »Alles umsonst«.
Ein Gutshof in Ostpreußen, der letzte Kriegswinter: Tausende von Menschen ziehen täglich vorbei, fliehen vor der Sowjet-Armee. Der Jude Erwin Hirsch indes träumt davon, ihr entgegen zu laufen - in die Freiheit, die er sich nach der langen Flucht vor den Nationalsozialisten erhofft.
Zwei Fluchten, zwei vermeintliche Freiheiten: Einen richtigen Weg scheint es nicht zu geben, nur vage Weltanschauungen, die dem Menschen nicht weiter helfen. In der Begegnung des Juden mit den anderen Deutschen, die Angst vor den Kommunisten haben, bringt der Autor Kempowski seine eigene Ratlosigkeit brillant auf den Punkt. Brillant, weil der 77-Jährige das große Leid sieht, aber sich nicht zum Wertenden über die Geschichte erhebt, erheben kann.
Der Roman, der auf dem Gutshof beginnt, liest sich stellenweise wie die Parabel auf eine Welt, die zunehmend auseinander driftet. Während die Ostfront näher rückt, verhält sich die Gutsherrin Katharina von Globig, als bestehe das Leben aus Büchern und Musik. Doch auch das feste Raster der Frau, deren Mann im Krieg ist, wird brüchig. Auf Bitten eines Pfarrers versteckt sie den flüchtenden Juden Hirsch für eine Nacht - das Ganze fliegt auf, Katharina von Globig, die sich am liebsten aus allem heraus gehalten hätte, wird verhaftet.
Längst ist der anfängliche Erzählton, in dem die bemühte Idylle zum Ausdruck kommt, verschwunden. Was der Autor folgen lässt, ist grausame Kriegs- und Vertreibungswirklichkeit. Lediglich der Sohn Katharinas überlebt - zur Ruhelosigkeit verdammt, wird er dafür sorgen müssen, dass die Menschen diese Geschichten niemals vergessen.
Mit »Alles umsonst« hat Walter Kempowski einen großen Roman geschrieben, der nicht zuletzt durch spannende Personen-Konstellationen besticht. Menschen treffen aufeinander, müssen weiter ziehen. Gekonnt unprätentiös erzählt der Autor in diesen kurzen Begegnungen von der Katastrophe eines ganzen Jahrhunderts.
Walter Kempowski: Alles umsonst. Knaus Verlag, München. 448 Seiten, 21,95 Euro

Artikel vom 25.10.2006