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Martin Kessel

»Wenn man aus dem Zoo kommt, sieht man die Menschen mit anderen Augen.«

Leitartikel
Erinnerung als Rummelplatz

Die Schreiber von der
fixen Feder


Von Rolf Dressler
Erinnerungen, in Buchform gegossen, verdienen längst nicht in jedem Fall immer auch gleich die hochwohllöbliche Bezeichnung »Memoiren«. Das Wer und das Wie sollten gebührlich bewertet und gewogen werden.
Der Basta-Ex-Kanzler und Blitzschnellschreiber Gerhard Schröder ist von Person und als Verfasser des gedruckten Wortes gewiss von anderem Zuschnitt als sein Amtsvorgänger, der gelernte Historiker Helmut Kohl. Dieser arbeitete aufwendig und mit großem Ernst mehr als sechs Jahre lang sein Politikerleben auf.
Hingegen brachte der Medien-Schau(m)-Mann aus Berlin, Hannover und vormals Talle im schönen Lipper Kalletal seinen fixen Erinnerungsritt durch die eigene jüngere Vergangenheit in nur ein paar läppischen Monaten zu Papier. Vieles, wenn nicht sogar das meiste davon handschriftlich, was Schröders Buch-Werbetrommler der interessierten wie der genervten Mitwelt mitzuteilen wissen.
Weit mehr vom Hocker reißen die Leute aber die Nachtretereien des Mannes, der ehedem für seine Torgefährlichkeit bekannt war und für recht rustikales Einsteigen bis hin zur »Blutgrätsche«, als er noch für seinen TuS Talle auf Punktejagd ging. Amtsnachfolgerin Angela Merkel, die umstürzlerischen Gewerkschaftbosse, die eigene Partei - Gerhard Schröder hat sie alle richtig drauf:
Die Erstgenannte könne es nicht - oder jedenfalls nicht wie er, der Gerd, als er mit Fischers Joschka in unerreichter Meisterschaft noch die Deutschland AG managte; lausig kräftig hätten die falschen Freunde vom DGB an seinem Kanzlerstuhl gesägt; und Oskar Lafontaine will Schröder praktisch aus seinem Erinnerungsfeld gestrichen haben, obschon er »nie wieder einen so begabten politischen Menschen kennengelernt« habe wie eben den Napoleon von der Saar.
Selbstüberhebung ist freilich keine Einzelerscheinung. Siehe den Gelegenheitsschreiber Gerhard Schröder, den Literaturnobelpreisträger Günter Grass und viele andere. Der hypermoralisierende Blechtrommler teilte jahrzehntelang erbarmungslos aus, fällte als ätzender SPD-Propagandist vernichtende Urteile über Konrad Adenauer und Helmut Kohl.
Erst nach 60 Jahren rückte er mit seiner Waffen-SS-Mitgliedschaft heraus - und fühlte sich nun in seinem Persönlichkeitsrecht (!) verletzt, als dank der »FAZ« ruchbar wurde, wozu er am 15. Juli 1969 (!) den SPD-Minister Prof. Karl Schiller ultimativ aufgefordert hatte: Schiller müsse umgehend seine persönliche Vergangenheit zur Zeit des Nationalsozialismus bekennen - »das wäre die Wohltat eines reinigenden Gewitters ...«
Als eine wirkliche Wohltat muss im Vergleich damit etwa das persönliche Erinnerungswerk Walter Kempowskis erscheinen: »Im Block«, die Haftjahre in Bautzen; die »Deutsche Chronik«; »Echolot«. Doch solche famosen Zeitzeugen-Bücher werden in keiner deutschen Schule gelesen, und kein Goethe-Institut lädt Walter Kempowski zu einer Lesung ein.

Artikel vom 25.10.2006