23.10.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Visionäre im geeinten Europa

Westfälischer Friedenspreis geht an Bethel-Helfer und Giscard d'Estaing

Von Matthias Meyer zur Heyde und Carsten Borgmeier (Fotos)
Münster/Bielefeld (WB). Jugendliche, die in Bethel ein »Freiwilliges Soziales Jahr« im Dienst an Behinderten verbringen, sowie der französische Staatsmann Valéry Giscard d'Estaing haben den »Westfälischen Friedenspreis« erhalten. Er wurde am Samstag im Rathaus zu Münster verliehen.

Christina Rau, aus Bielefeld stammende Witwe des Altbundespräsidenten Johannes Rau, würdigte das »im besten Sinne bürgerschaftliche Engagement« der Bethel-Jugendlichen: »Mein Mann hätte mit Blick auf Ihre Arbeit von dem Mörtel gesprochen, den unsere Gesellschaft so dringend braucht, damit ihre Stützen nicht zusammenfallen.« Die Laudatorin dankte ausdrücklich allen Menschen im »Sozialen Jahr«, die - auch in anderen Institutionen - Dienst an Hilfsbedürftigen tun.
»So richtig habe ich das noch gar nicht verarbeitet«, gestand Maximilian Müller (20), Abiturient des Bielefelder Ratsgymnasiums, der am Vortag an einem festlichen Diner teilgenommen hatte. »Es war aufregend, mit Giscard d'Estaing an einem Tisch zu sitzen und zu diskutieren«, meinte der 20-jährige angehende Politikwissenschaftler, der bei »Radio Antenne Bethel« mit Behinderten Sendungen gestaltete.
Das anfängliche Lampenfieber der fünf stellvertretend für alle Helfer angereisten Jugendlichen war auf dem Podium bereits verflogen. Souverän meisterte auch René Urban (22; ehemals Realschule Bielefeld-Sennestadt) seine Dankesrede vor dem handverlesenen Gästekreis aus internationaler Politik und westfälischer Wirtschaft. »Das Preisgeld wird natürlich in Projekte des ÝSozialen JahrsÜ fließen, und auch die Skulptur des steigenden Pferdes findet sicher einen würdigen Platz in Bethel«, kündigte Urban an.
Außer Müller und Urban wohnten die ehemalige Bielefelderin Stephanie Hesse (20, aus Blomberg), Anne Böger (21, aus Rheda-Wiedenbrück) und Amélie Vuillaume (24, aus La Force/Frankreich) dem Festakt im Saal über dem historischen Friedenssaal von 1648 bei. Dort trugen sie sich in Münsters Goldenes Buch ein.
»Die Verleihung des Friedenspreises wertet die unterschätzte soziale Arbeit der Ehrenamtlichen auf«, sagte Pastor Friedrich Schophaus, Vorstandsvorsitzender der Bodelschwinghschen Anstalten, erfreut. »Ich hoffe, dass diese Würdigung dazu beiträgt, junge Menschen mit den in Bethel gelebten Ideen bekannt zu machen, so dass sie später bei uns beruflich ihren Dienst an hilfsbedürftigen Menschen versehen wollen.«
NRW-Ministerpräsident Dr. Jürgen Rüttgers dankte den Preisträgern für ihre visionären Beiträge zugunsten eines friedliche vereinten Europas. Aus hörbarer Distanz zum strittigen Beitritt der Türkei zur EU nutzte Rüttgers das Grußwort der Landesregierung, um die Stärkung der »Wertegemeinschaft des jüdisch-christlichen Abendlandes« hervorzuheben und kündigte an: »Ich will die Beziehungen Nordrhein-Westfalens zu Frankreich ausbauen.«
Zweiter Preisträger ist Frankreichs Altpräsident d'Estaing (1974-81), der für seine herausragende Rolle bei der Arbeit an der EU-Verfassung gewürdigt wurde. Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker pries den vor 80 Jahren in Koblenz geborenen EU-Konventspräsidenten als visionären Politiker, der Frankreich aus »altem Mief« geführt, die deutsch-französische Annäherung befördert und Europas Einigung entscheidend vorangetrieben habe. »Künftige Generationen werden den Wert des Verfassungstextes erkennen«, meinte Juncker.
Und fügte hinzu: »Ohne ein gewisses Maß an Geduld und Entschlossenheit, ja, auch an Starrsinn ist die Ýeuropäische StreckeÜ nicht zu bewältigen. D'Estaing selbst schlug den Bogen zum Jahr 1648: »Gut, dass das französische Volk damals nicht über den Westfälischen Frieden abstimmen durfte. Womöglich hätte es ihn ebenso abgelehnt wie im vergangenen Jahr die gemeinsame Verfassung . . .«

Artikel vom 23.10.2006