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Lebenskarussell dreht
sich immer schneller

Zölligs Tanzabend »Vier Jahreszeiten« in Bielefeld

Von Uta Jostwerner
Bielefeld (WB). Die Jahreszeiten und ihr Wandel sind eine sprudelnde Quelle alles Schöpferischen. Künstler aller Sparten zogen daraus kreative Inspiration für unzählige Werke ingeniöser Machart. Mit Gregor Zölligs Tanzabend »Vier Jahreszeiten« ist die Menschheit um ein weiteres reicher.

Sie sind schon putzig, diese raupenartigen Wesen, die im Bielefelder Stadttheater über die Bühne robben. Noch ein wenig tölpelig strecken sie ihre Fühler aus, streifen das schützende Daunenmäntelchen ab, um sich darunter im frischen Blütenkleid zu präsentieren und auf bunter Blumenwiese ins Leben zu starten.
Es ist Frühling, verrät jeder Schritt, jedes ausgelassene Paarungsspiel. Zeit, sich unbeschwert zu erproben, Beziehungen zu knüpfen, die Welt zu erobern. Bewegung und Ausdruck zeichnen eine Aura von Leichtigkeit, die aus dem Orchestergraben noch verstärkt wird, wo die von Kapellmeister Kevin John Edusei geführten Philharmoniker den Esprit von Joseph Haydns »Morgen« aus der Tageszeiten-Symphonie wunderbar feinnervig, quellsprudelnd zum Klingen bringen.
Doch »nichts ist, das ewig sei«, dichtete schon Andreas Gryphius. Erst unmerklich, dann immer schneller dreht sich das Lebenskarussell, lautet eine von vielen Botschaften des Uraufführungsabends, die in Tilo Steffens asketischer Bühnengestaltung kongenial transportiert wird. Dazu bedarf es nur einer am Rand der Drehbühne stehenden Wand, die während der Inszenierung im Uhrzeigersinn bewegt wird. Das geschieht indes so langsam, dass man verblüfft ist, wenn sie mit Einsetzen des Sommers um 90 Grad versetzt steht.
Die heißeste Jahreszeit trägt kühle Farben. Dafür ist die Choreografie um so schweißtreibender. Unterbittlich treibt der peitschende, hämmernde Beat von Mark-Anthony Turnage' »Scherzoid« die Tänzer und Tänzerinnen an. Zölligs Lebenssommer, der wie alle anderen Abschnitte in Kooperation mit den Ensemblemitgliedern entstand, ist gekennzeichnet von Hektik, ausgedrückt in einer Bewegungssprache, die an Akkordarbeit erinnert. In der Blüte des Lebens wird gepowert, bis wir ausgepowert sind.
Zum Ausruhen und Ernten lädt der Herbst ein. Festlich gekleidet in goldenen Oktoberfarben (Kostüme: Rupert Franzen) hält er kurz Hof -Êfür die Dauer von Erkki-Sven Tüürs flirrenden Streichersatz »Passion«. Schneller als erwartet kommt der Winter. Mit den knallenden Paukenschlägen von Benjamin Brittens »Sinfonia da Requiem« setzt der Verfall ein. Es ist zugleich der ergreifendste Zyklus in Zölligs Jahreszeitenschau, der für Kälte und Abschiednehmen eindringliche Bewegungsbilder findet und den Zuschauer doch nicht hoffnungslos zurücklässt.
»Vier Jahreszeiten« bildet im brillanten Zusammenwirken von Musik, Tanz, Bühne und Kostümen ein sinnlich erfahrbares Bild menschlichen Lebens und Zusammenlebens, das zwischen Lachen und Weinen, Ausgelassenheit und Nachdenklichkeit, Hektik und Ruhe oszilliert.

Artikel vom 23.10.2006