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François de
La Rochefoucauld

»Ein geistreicher Mensch wäre oft in Verlegenheit ohne die Gesellschaft der Dummköpfe.«

Leitartikel
EU »am Limit«

Traumtanz ist ein
heikles Ding


Von Rolf Dressler
Man braucht nur 1 und 1 zu- sammenzuzählen und die ganze Tragweite gerade dieses historisch unvergleichbaren Mammutvorhabens redlich-nüchtern zu Ende zu denken. Dann spricht alles, wirklich alles dafür, mit der Türkei eine eigene, enge Partnerschaft vertraglich zu vereinbaren.
Was aber führt die europäische Politik uns stattdessen vor? Sie übertrifft sich in skurrilen Verrenkungskünsten, die Zirkus- und Varieté-Akrobaten allerdings kaum zur Ehre gereichen würden.
Erstaunlich hohe Wellen schlägt die gepfefferte »Brüssel«-Kritik des deutschen EU-Kommissars Günter Verheugen. Plötzlich wollen es auch andere eigentlich immer schon gewusst haben: Das Regiment der Europa-Bürokraten müsse dringlich gebrochen werden, denn deren Überregulierungs-, Verordnungs- und Gesetzeswut verdrieße und verärgere die Bürger, verleide selbst den Wohlmeinenden den Jahrhundertbau des vielbeschworenen Europäischen Hauses.
Was leider zutrifft. Dabei haben doch genau diejenigen den Dingen ihren Lauf gelassen oder sie sogar aktiv mitbeschlossen, die nun verkünden, dass die EU-Institutionen unbedingt vom Kopf auf die Füße gestellt werden müssten: Die wuchernde Bürokratie habe sich der EU-Kommission unterzuordnen - und nicht umgekehrt. Was für eine bahnbrechende Erkenntnis!
Ganz ähnlich falsch gepolt verliefen hierzulande jahre-, ja, jahrzehntelang die Abwehrschlachten namentlich von SPD und Grünen gegen jedwede noch so konstruktiven Vorschläge, die Zuwanderung - übrigens auch zum Nutzen der Betroffenen - gemeinschaftsverträglich zu gestalten und zu steuern, wie das anderwärts aus guten Gründen gang und gäbe ist. Heute mahnen und warnen dieselben Verweigerer, dass es keinesfalls weitergehen dürfe wie bisher.
Sogar verpflichtende Deutsch-Sprachkurse müssten her, weil sich Millionen Menschen ausländischer Herkunft nur dann in die hiesige demokratisch-rechtsstaatliche Gesellschaft hineinfühlen und hineinfinden könnten. Kulturell. Sozial. Politisch.
Soeben bekundete die Europäische Kommission dankenswert freimütig, dass die EU mit dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens objektiv »an ihrem Limit angelangt« sei. Im Klartext: Eine noch stärkere Ausdehnung wäre auf absehbare Zukunft keinesfalls zu verkraften.
Wie aber stellen sich Europas Regierungen dann einen EU-Beitritt der Türkei vor? Bedrückend krass wird dort gegen Menschenrechte, Religions-, Meinungs- und Pressefreiheit verstoßen. Und Regierungschef Recep Tayyip Erdogan verkündet unverblümt, worauf das türkische Beitrittsansinnen im Kern hinzielt: Es gelte, endlich den ersten vollislamischen Staat in Europa zu verankern.
Derweil üben sich die Europäer in einem hilflosen Spagat: Privilegierte Partnerschaft jein - aber Zusagen und Verträge gar müssen natürlich gehalten werden.
Diese Traum- und Eiertänze könnten künftigen Generationen schwer zu schaffen machen.

Artikel vom 21.10.2006