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Anna Politkowskaja

»Kämpfen wir mit Gesetzen gegen Gesetzlosigkeit, oder dreschen wir gesetzlos auf
Unliebsame ein?«

Leitartikel
Kalkulierter Zynismus - oder?

Das Gewissen
und
der Teint


Von Rolf Dressler
Keine Sorge, auch die schillernde Menschheitsgeschichte der Gewissenserforschung braucht nicht umgeschrieben zu werden. Denn vieles darin wiederholt sich fortwährend, in allen nur vorstellbaren Schattierungen. Allerdings fällt auch dem Wohlwollenden auf, dass Zwiespältiges dabei offenkundig öfter zu Tage tritt als Beflügelndes und Erhebendes.
Dazu im folgenden also ein anschaulicher gedanklicher Feldversuch - am lebenden Objekt, so- zusagen. Schauplatz Dresden vor neun Tagen. Kreml-Chef Wladimir Putin, zu Besuch bei Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, hält großmächtig-selbstgewiss Hof und erklärt, ohne mit der Wimper zu zucken: Der Einfluss der kurz zuvor meuchlings ermordeten, weltbekannten Journalistin und Regimegegnerin Anna Politkowskaja auf das reale politische Leben Russlands sei - man fasst es nicht - »gänzlich unbedeutend« gewesen. Mitgefühl erwecke (lediglich?) das gewaltsame Ableben dieser Frau als russische Bürgerin und Mutter.
Kalkulierter Zynismus pur? Gefühllosigkeit? Geistiges Sägemesser-Gebaren? Gewissensarmut? Von allem etwas?
»Ein schlechtes Gewissen macht schlechten Teint«, witzelt hintergründig der Volksmund. Schaut der gewöhnliche Mensch aber in die Runde, steigen sogleich Zweifel daran in ihm auf, ob im eigenen Lebensumfeld oder beim Blick in Politiker-Gesichter.
Bevor sie von unbekannter Killerhand mit gerade erst 48 Jahren starb, hatte Anna Politkowskaja in ungezählten Berichten und Reportagen die schweren Menschenrechtsverletzungen des unerbittlichen Systems Putin beleuchtet. Sie fühlte sich einzig ihrem Gewissen und den zahllosen bekannten und unbekannten, eingekerkerten und spurlos verschollenen Opfern der neuzeitlichen »aufgeklärten Diktatur« in Russland verpflichtet.
»Am ruhigsten schläft das Gewissen auf dem Stempelkissen« - auch dieses Schelmenwort aus dem Volke stammt zwar nicht aus Wladimir Putins Reich. Es könnte aber durchaus dorthin passen. Man braucht sich nur das Heer stempelwütiger Staatsaufseher, Überwacher und Geheimdienstkontrolleure vorzustellen, auf die Putin sein Regime entscheidend gründet.
Es mag ja sein, dass, positiv betrachtet, ein schlechtes Gewissen nicht einmal so selten auch die Mutter guter Gedanken, Handlungen und Erfindungen ist. Leider jedoch bewahrheitet sich am Denken, Tun und Treiben vieler Menschen, ob ganz oben oder weit unten, immer wieder auch diese Beobachtung des famosen polnischen Autors Jerzy Lec:
»Sein Gewissen war rein. Er be- nutzte es nie.«
Wie unter einer düsteren Vorsehung schrieb Anna Politkowskaja am 12. Dezember 2005 in der regimekritischen Zeitung »Nowaja Gaseta«: »Wer wird der nächste sein? Vielleicht wegen eines schiefen Blickes auf Putin? Die Ermittler hätten es leichter: Man filmt die Demonstranten auf Video -Êund ab ins Lager ...«

Artikel vom 20.10.2006