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»Neue Unterschicht«: Zuspitzung
bringt Situation auf den Punkt

Für die Soziologen ein analytischer Begriff - für die Politik ein Zankapfel

Von Sebastian Raabe
Berlin (dpa). Es könnte die Stunde der Soziologen sein. Der Streit um eine neue Unterschicht in Deutschland ist auch zu einem Streit um Begriffe geworden. »Für Soziologen ist es beinahe belustigend, wie sich nun alle winden, um den Begriff Unterschicht zu vermeiden«, sagt Professor Ronald Hitzler von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

Für ihn gehört die Bezeichnung zum Rüstzeug der Gesellschaftsforscher: »Das ist ein rein analytischer Begriff. Er beschreibt, aber er wertet nicht.«
Auslöser für den Krach um die soziologische Terminologie war eine Untersuchung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). In dem 500-Seiten-Papier ist von Unterschicht zwar keine Rede - doch haben die Meinungsforscher eine Gruppe ausgemacht, die wenig verdient, arbeitslos ist oder einen unsicheren Arbeitsplatz hat und sich vor allem selbst im Abseits sieht.
»Abgehängtes Prekariat« nennen die Wissenschaftler diese Gruppe, die immerhin acht Prozent der Bevölkerung ausmachen soll. Schon zuvor hatte der SPD-Vorsitzende Kurt Beck den Begriff »Unterschichten-Problem« erwähnt und seine Genossen ins Grübeln gebracht.
Rasch entdeckte die Politik die soziale Frage wieder, doch das Vokabular der Wissenschaft wollen zumindest die Regierungsparteien nur ungern nutzen: »Es gibt keine Schichten in Deutschland«, beschied Vizekanzler Franz Müntefering (SPD). Auch andere führende Sozialdemokraten wehren sich gegen die Bezeichnung - sie sei diskriminierend und abwertend.
»Natürlich gibt es eine Unterschicht. Richtig ist, dass Armut sich wieder vererbt«, widerspricht der frühere CDU-Arbeitsminister Norbert Blüm. CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla warnt hingegen, der Begriff Unterschicht sei »komplett falsch«.
Den Handlungsbedarf bestreitet indes niemand. Die Gruppe derjenigen, die nicht mehr in klassischen Normalarbeitsverhältnissen ihr Geld verdienen, wird größer. Allein zwischen den Jahren 1991 und 2005 ging die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung um 13 Prozent zurück, hat die Bundesagentur für Arbeit errechnet. 2,5 Millionen Kinder leben derzeit in Familien, deren Einkommen auf Sozialhilfe-Niveau liegt, stellt der Kinderschutzbund fest. Die Probleme sind nicht mehr zu übersehen.
Die Studie der FES sollte eigentlich helfen, neue Zielgruppen zu erreichen. Schon im Bundestagswahlkampf 1998 setzte die SPD auf Untersuchungen von Milieu-Forschern, um neue Wählerschichten zu erschließen. Auf den Milieu-Karten fand sich auch die »neue Mitte«. Nun scheint die Furcht bei den Sozialdemokraten groß, mit der »neuen Unterschicht« Wähler zu verschrecken, statt sie zu begeistern.
Dabei sind sich die Wissenschaftler nicht einig, wie sie die wachsende Armut am besten beschreiben sollen. »Soziologen sind chronisch zerstritten, aber das ist kein Manko, das zeichnet sie aus«, sagt Professor Hitzler. Das Thema sei zu komplex für schnelle und einfache Antworten. Um gründlich die Entwicklungen untersuchen zu können, brauche es Geld. »Vor allem aber braucht es Zeit«, sagt Hitzler. Ob Schichten-Modelle oder Milieu-Forschung, die Soziologen versuchen auf vielen Wegen zum Ziel zu kommen. Die Frage, wie viele Menschen in welchen Gruppen, Schichten oder Milieus zu finden sind, hängt immer auch von der Definition der Gruppe ab.
Der Historiker Paul Nolte prägte den Begriff der »neuen Unterschicht« bereits 2004 und kann die Aufregung nicht verstehen. Es müsse Schluss damit sein, in nebulösen Formulierungen zu reden. »Da sollte man Butter bei die Fische tun und auch wissen, worüber man spricht. Deshalb: Klarheit in der Begrifflichkeit.« Der Begriff »Neue Unterschicht« bringe die Situation doch auf den Punkt. »Nur Zuspitzung bringt eine politische Diskussion in Gang, und die brauchen wir offenbar, um etwas zu verändern.«

Artikel vom 19.10.2006