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»Diese Schau ist ein Jahrhundert-Werk«

Das WESTFALEN-BLATT zeigt erste Kunstwerke - Exklusivgespräch mit den beiden Museumsleitern

Von Manfred Matheisen
und Rolf Dressler
Bielefeld/Herford (WB). Die Kunsthalle Bielefeld und das MARTa Herford bereiten für den Sommer kommenden Jahres eine Ausstellung vor, die in dieser Art noch nie gezeigt worden ist. »1937 - Perfektion und Zerstörung« zeigt die Reaktion europäischer Künstler auf die Diffamierung zeitgenössischer Kunst durch die Nationalsozialisten. Als Gegenpol werden Werke von Künstlern zu sehen sein, die den Nazis genehm waren.

»1937 steht in der Kunstgeschichte für den Beginn eines Albtraums«, sagen die Museumsleiter Thomas Kellein (Bielefeld) und Jan Hoet (Herford). Die Nazis gründeten die »Reichskammer der bildenden Künste«, diffamierten in der Ausstellung »Entartete Kunst« mehr als 100 Künstler, deren Werke zuvor aus den öffentlichen Sammlungen verbannt worden waren. Der Tyrann Stalin entfernte die russischen Avantgardisten aus den Museen. In Spanien hatte sich 1936 General Franco an die Macht geputscht und gegen die Moderne gewandt.
»Künstlerpersönlichkeiten wie Picasso, Max Ernst, René Magritte, Max Beckmann und viele andere sahen, dass die größte Katastrophe des Jahrhunderts unmittelbar bevorstand,« sagt Kellein. »Nach der Zerstörung der spanischen Stadt Guernica durch Bombenangriffe der Legion Condor haben sie gespürt, dass das nur der Anfang war. Was in ihren Bildern zum Ausdruck kommt, ist die Idee eines Albtraums, der wirklich passiert.«
In der Ausstellung werden mehr als 400 der Werke gezeigt, die in den Jahren 1936 ist 1938 entstanden sind. Darunter sind Leihgaben namhafter Museen wie des Museums of Modern Art oder des Metropolitan-Museums New York. Zudem werden auch Studien zu Picassos berühmtem Gemälde Guernica zu sehen sein, das bei der Weltausstellung in Paris erstmals gezeigt wurde.
Eine Dokumentation, wie sie derzeit in Bielefeld und Herford vorbereitet wird, hat es bislang in Deutschland noch nicht gegeben. Kellein: »Die Geschichte der 'entarteten Kunst' ist dargestellt worden, zuletzt vor 20 Jahren in einer großen Ausstellung in München. Wir wollen nun die Zerrissenheit jener Zeit zeigen, die Reaktion der Kunst auf die fürchterliche Diffamierung. Das ist für uns ohne Übertreibung wirklich ein Jahrhundertprojekt«.
Das anspruchsvolle und ehrgeizige Vorhaben ist für ein Museum allein nicht zu bewältigen. Deshalb haben Kellein und Hoet eine Zusammenarbeit der beiden Häuser vereinbart. Es wird einen gemeinsamen Katalog geben. Die Tickets gelten für beide Ausstellungsbereiche. Zwischen Bielefeld und Herford wird ein Museums-Busverkehr eingerichtet.
Der Etat für die Ausstellung in Höhe von einer Million Euro übersteigt die finanziellen Möglichkeiten der beiden heimischen Häuser bei weitem. Deshalb ist man auf Zuschüsse angewiesen. Die Kulturstiftung NRW hat bereits signalisiert, die Schau fördern zu wollen. Die endgültige Entscheidung trifft das Kuratorium Anfang November. Von der Kulturstiftung des Bundes erhoffen sich die Ausstellungsmacher ebenfalls einen »beträchtlichen Betrag«. Auch hier rechnet man für Anfang nächsten Monats mit einer festen Zusage.
Der Reaktion der internationalen Kunst auf die »Zerstörung« durch das NS-Regime setzen Kellein und Hoet unter dem Titel »Perfektion« punktuell einzelne Arbeiten von Künstlern entgegen, die der nationalsozialistischen Ideologie entsprachen - Arno Breker, Leni Riefenstahl, die Architekturmodelle von Albert Speer.
Jan Hoet: »Wir zeigen die Nazi-Kunst bewusst nicht separat. Indem wir im MARTa Skulpturen von Breker etwa den Arbeiten der Abstrakten in der Pariser Gruppe Cercle et Carré entgegensetzen, wollen wir den Betrachtern die Chance geben, selbst zu vergleichen und vor allem zu urteilen.« Die »Nazi-Kunst« werde dabei »qualitativ ausgesprochen schlecht wegkommen«. Es werde zum Beispiel deutlich werden, dass der Bildhauer Arno Breker zwar »alles riesengroß machte, aber keine eigene schöpferische Leistung geboten hat«.
In Herford wird man sich auch mit der Architektur der 1930er Jahre befassen. Zu sehen sein werden Speers gigantische Architekturmodelle, die er nach den Wunschvorstellungen Hitlers entworfen und angefertigt hat. Als Gegenpol werden neben anderen Arbeiten von Otto Kohtz gezeigt, der eine eigene Bildsprache entwickelt hat und erst vor wenigen Jahren »entdeckt« wurde.
Die Museen haben den Ausstellungszeitraum (3. Juni bis 7. Oktober 2007) bewusst gewählt: Zeitgleich finden in Kassel die Documenta und in Münster die große Skulpturenausstellung statt. Hoet: »Wir hoffen, dass möglichst viele Besucher dieser beiden Schauen auch bei uns in Bielefeld und Herford Station machen werden.« Entsprechend wolle man in ganz Deutschland für die Ausstellung werben. Über die Kultusministerien sollen zudem Schulen gezielt angesprochen werden.
Erarbeitet wird derzeit ein umfangreiches Begleitprogramm zu der Ausstellung »1937«. Man wird sich zum Beispiel der Filmkunst und der Musik jener Jahre widmen. Lesungen und Diskussionen runden das umfassende Angebot ab.
»1937« werde für die Besucher »keine einfache Ausstellung sein«, erläutert Thomas Kellein. »Es wird in geballter Form unwahrscheinlich viel zu sehen sein. So unterschiedlich die Arbeiten auch sind, sie haben einen Tenor: Grauen, Entsetzen, Orientierungslosigkeit. Das geht sehr tief unter die Haut.«

Artikel vom 19.10.2006