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Helma schien diese Besuche auf dem Friedhof zu genießen, aber Konrad fand sie ganz schrecklich, er wollte nicht mit einem Grabstein reden. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dort wirklich seine beiden Geschwister unter der Erde lebten und ihm zuhörten. Aber Helma behauptete sogar, sie wisse ganz genau, wie schön das Zimmer eingerichtet sei, in dem Heinrich und Wilma unter der Erde wohnten, sie könne es manchmal sehen. Kleine Sessel hätten sie und einen runden Tisch mit einer Tischdecke mit ganz langen Fransen. Und auf dem Tisch eine große Schüssel mit Pudding. Manchmal war es auch ein Blumenstrauß oder Kuchen. „Sie wohnen aber nur sonntags dort, weil sie wissen, dass wir kommen, sonst leben sie ja im Himmel,“ sagte sie. „Sie spinnt,“ dachte Konrad, „meine kleine Schwester spinnt.“ Aber Mama gefiel es, wie Helma redete, nur Papa wohl nicht, er ging meistens weg, wenn Helma anfing mit dem Grab zu reden. Aber Papa hatte Mama wenigstens verboten, ihn, Konrad, zu zwingen, mit seinen toten Geschwistern zu reden. Aber „guten Tag“ und „auf Wiedersehen“ musste er auch sagen, darauf bestand sie. Er kam sich so albern dabei vor und hatte immer Angst, es könnte ihn ein Kind aus der Schule dabei sehen und dann über ihn lachen.

Wenn sein Opa oder die Tante mit Hans und Christel zu ihnen kamen, musste er nicht auf den Friedhof, aber wenn der Besuch dann wieder ging, begleiteten Mama und Helma sie bis zum Friedhof, denn Helma war überzeugt, dass Heinrich und Wilma auf sie warteten und bestimmt schon ganz traurig waren, weil sie heute so spät kam. Seine Gefühle waren zwiespältig, früher hatte er ja auch geglaubt, sie könnten ihn hören und er könne ihnen alles erzählen. Aber jetzt war er überzeugt, dass nur kleine Kinder so etwas glauben konnten und doch beneidete er Helma insgeheim um ihre feste Überzeugung. Andererseits dachte er voll Sorge daran, dass sie auch bald zur Schule gehen musste, hoffentlich erzählte sie dann nicht allen von ihren Geschwistern, die unter der Erde eine schöne Wohnung hatten. Die Kinder würden sie auslachen und ihn mit, weil er eine so verrückte kleine Schwester hatte. Die Schule hatte nur zwei Klassenzimmer, so dass in jedem Zimmer vier Jahrgänge sitzen mussten. Er wäre also in einem Raum mit ihr und jeder wusste, dass sie seine Schwester war. Hoffentlich wurde sie bis zu ihrer Einschulung noch vernünftiger. Er hatte schon eine Freundin in seiner Klasse, aber das wusste niemand, das war sein Geheimnis. Brunhilde hieß sie und war das schönste und netteste Mädchen der ganzen Schule. Vor ihr wollte er sich auf keinen Fall blamieren. Allerdings hatte er sich schon einmal verraten. Als Helma ihn vor Tagen gefragt hatte, ob er sie heirate, wenn sie groß wären, hatte er ihr geantwortet: „Nein, wenn ich groß bin, heirate ich Stroms Brunhilde.“ Helma war ganz traurig gewesen und hatte gesagt: „Aber wir gehören doch zusammen, wie Papa und Mama, Oma und Opa und Tante Elisabeth und Adolf.“ Dabei gehörten Tante Elisabeth und Adolf gar nicht zusammen. Aber Helma hatte eben keine Ahnung, sie wusste ja nicht einmal, dass Geschwister sich nicht heiraten. Sie würde ihn bestimmt ganz schrecklich blamieren, wenn sie in die Schule kam.

Doch Helma dachte gar nicht daran, irgendjemand von ihren toten Geschwistern zu erzählen, auch nicht den Freundinnen in der Schule. Sie war eine Träumerin und eigentlich noch nicht reif für die Schule. Doch da sie im März 1951 sechs Jahre alt geworden war, musste sie zu Schuljahresbeginn am 1. April eingeschult werden. Im ersten Halbjahr hatte sie große Schwierigkeiten, überhaupt zu verstehen, was der Lehrer von ihr erwartete. Und in diesem Fall bestätigte sich Konrads Angst vor der Blamage, denn der Lehrer wie auch die Mitschüler nahmen an, dass Helma einfach dumm sei, im Gegensatz zu Konrad, dessen Wissbegier und schnelles Denken dem Lehrer sogar unheimlich war. Er sagte einmal zu Elise: „Ich gratuliere ihnen zu ihrem überaus begabten Sohn, er könnte leicht eine Klasse überspringen, denn er ist nicht nur viel reifer als seine Mitschüler, er hat auch eine geradezu überragende Intelligenz.

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nd er lernt so ernsthaft und doch mit einer Leichtigkeit, die in dem Alter sehr selten ist. Ehrlich gesagt, mache ich mir manchmal Sorgen um ihn, denn solche Kinder sind sehr gefährdet für Geisteskrankheiten. Genie und Wahnsinn liegen halt nah beieinander.“ Es war geradezu unverantwortlich, Elise so etwas zu sagen, sie lebte doch sowieso schon in der ständigen Angst, dass den beiden Kindern, die ihr noch geblieben waren, etwas passieren könne. Als er ihr dann schonend beibringen wollte, dass dagegen die kleine Helma nicht gerade mit großen Geistesgaben gesegnet sei, antwortete Elise nur: „Lieber sind meine Kinder dumm und gesund als überschlau und verrückt, Hauptsache, sie haben das Herz auf dem richtigen Fleck.“ Dann ließ sie den Lehrer stehen, ging aufgeregt nach Hause und berichtete allen, was er gesagt hatte. Wilhelm erklärte den Lehrer für beschränkt und damit war der Fall für ihn erledigt. Er kannte schließlich seine Kinder und weder war die Kleine dumm noch war sein Sohn überschlau. Konrad war halt sehr ernst, aber war das ein Wunder, bei dem, was er als Kind schon an Schwerem erleben musste? Und seine Kleine war auch nicht dumm, sondern nur sehr verträumt, aber das würde schon noch werden. Trotzdem betete Elise von nun an jeden Abend, dass Gott ihren Kindern einen gesunden Geist erhalten möge.

Im nächsten Schuljahr bestätigte sich Wilhelms Einschätzung, was Helma betraf, sie holte auf und war in kürzester Zeit Klassenbeste. Konrad, inzwischen zehn Jahre alt, war immer seltener bereit, den sonntäglichen Gang zum Friedhof mitzumachen. Aber er beobachtete seine Mutter genau, aus Angst vor ihren Verzweiflungsanfällen, und merkte immer als erster, wann wieder ein Anfall kam und man aufpassen musste, dass sie sich nichts antat. Eines Tages, es war wieder soweit, Elise hatte stundenlang im Schlafzimmer mit Heinrichs Bild in den Händen auf dem Bett gesessen und geweint, sah er sie die Bodentreppe hinaufgehen. Er bekam schreckliche Angst und hatte nicht den Mut hinter ihr her zu gehen, denn er wusste, er würde nicht mit ihr reden können. Denn immer, wenn sie so war wie jetzt, dann fühlte er sich von ihr verlassen und ungeliebt, so als seien er und Helma als Kinder nicht gut genug. Und das machte ihn ängstlich und verzagt, deshalb konnte er nie ein sorgloses Kind sein. Er musste immer wachsam bleiben, damit sie ihn und Helma nicht verließ, musste mit zehn Jahren schon erwachsen sein.

Er rief Helma, sie konnte mit Mama reden, sie trug ihr Herz auf der Zunge, ihr fiel es leicht, „Ich hab dich lieb“ zu sagen, denn das war das einzige, was Mama würde hören wollen, und er konnte es nicht sagen. Helma, die vor der Haustür mit der Katze gespielt hatte, kam die Treppe hoch und sah ihn fragend an. „Mama ist auf den Boden gegangen,“ flüsterte er ihr zu, „es ist wieder soweit, du weißt schon, wir müssen aufpassen. Geh du nach oben, rede mit ihr, sag, dass wir sie lieb haben und brauchen, ich kann das nicht.“ Er schluckte tapfer die Tränen hinunter, die, teils aus Angst um und teils aus Zorn über seine Mutter in seine Augen stiegen. Helmas Herz klopfte wie verrückt, als sie die Bodentreppe nach oben stieg. Und was sie dann sah, würde sie nie mehr in ihrem Leben vergessen. Elise stand schluchzend auf dem Dachboden, einen Strick in der Hand, den sie über den Dachbalken geworfen hatte. Neben ihr stand ein alter Küchenstuhl mit abgebrochener Lehne. Sie versuchte gerade, eine Schlinge zu knoten, und dabei flüsterte sie unter Schluchzen: „Ich komme Heinrich, Wilma, eure Mama kommt, ich lasse euch nicht allein, ich komme zu euch, meine Kinder.“ Voller Angst und wie gelähmt starrte Helma zu ihrer Mutter hin, das konnte doch nicht sein, die Mama wollte sie verlassen, sie allein lassen. Sie musste etwas tun, sie davon abhalten, aber der Anblick und die Worte ihrer Mutter hatten ihr einen solchen Schreck versetzt, dass sie nur einen schmerzhaften Kloß in ihrem Hals spürte und kein Wort herausbrachte.

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on unten hörte sie Konrads Stimme: „Was tut sie, Helma, so sag doch was.“ Sie schluckte und schluckte, endlich, als ihre Mutter gerade auf den Stuhl steigen wollte, gelang es ihr, mit zitternder Stimme „Mama“ zu rufen. Und etwas lauter „Mama“, Elise drehte sich zur Bodentreppe um und sah ihre Tochter dort stehen. „Helma“, sagte sie ganz verwundert und ihr Schluchzen brach ab, „was willst du denn?“ Da fing Helma an zu weinen, „Mama, du darfst uns nicht verlassen, wir haben dich doch lieb, wir brauchen dich doch, der Konrad und ich.“ Elise schien wie aus einem bösen Traum zu erwachen: „Aber Heinrich, er hat seine Ärmchen nach mir ausgestreckt, er hat mich gerufen, ich kann ihn doch nicht allein lassen, er ist krank und Wilma auch, sie brauchen mich, ich bin doch ihre Mama, ich darf sie nicht allein lassen.“ Und zögernd stand sie da, noch halb im Wahn, aber langsam in die Realität zurückkehrend. Da lief Helma die letzten beiden Stufen hinauf und hin zu ihr, sie drückte sich an Elise, weinte und sagte immer wieder: „Wir brauchen dich doch auch Mama, wir haben dich lieb, du darfst dir nichts antun.“ (wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.11.2006