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Noch dazu ist die Krankheit im Anfangsstadium und wenn nicht irgendetwas Unvorhergesehenes dazu kommt, kann ich ihnen garantieren, dass Helma bald wieder gesund wird. Aber sie müssen mir versprechen, sich genau an meine Anweisungen zu halten.“ Nachdem Elise und Wilhelm bei den ersten Worten des Doktors vor Entsetzen fast die Luft wegblieb, atmeten sie jetzt ganz tief durch, umarmten sich und bei Elise flossen Tränen der Erleichterung.

Oma kam mit dem frischen Wasser wieder herein und der Doktor wusch sich die Hände und erteilte seine Anweisungen. Sie würden für zwei Tage und Nächte mit Helma nach unten in die Stube ziehen müssen, alle Betten mussten raus und Dr. Tonne wollte jemanden schicken, der das Schlafzimmer und die Betten gründlich desinfizieren würde. Alle Bettwäsche sollte gekocht werden, ebenso Bade- Hand- Taschentücher und Leibwäsche. Wer sich bei Helma aufhielt, musste einen Mundschutz tragen und nach jedem Kontakt gründlich die Hände mit Kernseife waschen. Dr. Tonne würde täglich kommen und nach Helma sehen.

W
ilhelm und Elise versprachen, sich genau an seine Anweisungen zu halten und bedankten sich herzlich bei ihm. Als Oma hörte, dass Helma sehr gute Chancen hatte, wieder gesund zu werden, lief sie schnell wieder die Treppe hinunter, um es auch Elisabeth zu sagen und mit ihrer Hilfe gleich den großen Waschkessel, der in der Küche des Ellerhauses stand, mit Wasser zu füllen und anzuheizen. Es war so erlösend, etwas tun zu können, nicht mehr so schrecklich hilflos zu sein. Und wie versprochen, fuhr der Doktor Konrad und Wilhelm zu Elises Vater. Es gab zwar ein paar Tränen, als Wilhelm sich verabschiedete, nachdem er alles berichtet hatte, aber Opa Konrad gelang es doch, seinen Enkel abzulenken und zu beruhigen.


I
m Haus von Wilhelm und Elise drehte sich in den nächsten zwei Wochen alles um die kleine Helma. Der Waschkessel wurde jeden Tag angeheizt, Bettwäsche, Handtücher und Taschentücher ausgekocht. Vier Hühner mussten ihr Leben lassen, denn Oma schwor auf die Heilkraft von Hühnerbrühe. Aus einem alten Betttuch hatte sie Dreieckstücher geschnitten, die sie als Mundschutz benutzten, wenn sie das Schlafzimmer betraten. Elise wich fast gar nicht vom Bett ihrer Tochter. Sie hatte Helma ins Elternbett genommen und Wilhelm in das Bett Konrads umquartiert. So entging ihr kein Röcheln oder Husten ihrer Kleinen. Sie war nachts beim kleinsten Geräusch von Helma, sofort wach. Täglich wurde das Schlafzimmer mit Essigwasser gründlich gewischt, so dass inzwischen das ganze Haus nach Essig roch. Die Kinderbettchen hatte Wilhelm abgebaut, weil der Anblick der leeren Betten schwer zu ertragen war.

A
n diesen Platz neben dem Ofen, hatte Oma jetzt ihr Spinnrad aufgestellt und setzte sich jeden Nachmittag für einige Stunden dorthin und spann die Schafwolle. In dieser Zeit konnte sich Elise dann etwas ausruhen. Dr. Tonne kam täglich und freute sich mit der Familie, als sich die ersten Erfolge der Behandlung zeigten und der Husten weniger wurde. „Liebe Frau Trebeis, am Heiligabend darf die Kleine aufstehen und mit ihnen allen unter dem Weihnachtsbaum feiern. Das ist mein Weihnachtsgeschenk an sie,“ sagte er zu Elise, die dankbar seine Hände drückte. Sie wusste, dass sie diesem Mann das Leben ihrer Tochter verdankten. Da jetzt keine Ansteckungsgefahr mehr bestand, konnte Wilhelm am Tag vor Heiligabend, auch Konrad wieder nach Hause holen. Das war ein freudiger Empfang! Alle hatten ihn so sehr vermisst und auch Konrad hatte großes Heimweh gehabt, obwohl er von Tante und Opa verwöhnt worden war. Aber jetzt war er selig, wieder bei Mama und Papa zu sein und wollte nie wieder von zu Hause weg. Auch wenn die Mama immer noch so viel weinte und die Stimmung im Haus ganz schrecklich traurig war, wegen Heinrich und Wilma, so war er doch hier zu Hause, fühlte sich geborgen und geliebt. Einen schöneren Platz als zu Hause gab es bestimmt auf der ganzen Welt nicht! Helma ging es wirklich schon viel besser und so konnte sie, zusammen mit Konrad und der ganzen Familie, in der guten Stube den Weihnachtsbaum bestaunen. Den hatte Tante Elisabeth mit Konrads Girlanden ganz wunderbar geschmückt. Und die Erwachsenen gaben sich große Mühe, für Helma und Konrad ein schönes Weihnachtsfest zu gestalten, auch wenn sie selbst keine Weihnachtsstimmung empfanden.

Dr. Tonne kam noch sehr lange Zeit, um Elise in regelmäßigen Abständen Beruhigungsmittel zu geben, denn die Trauer um ihre verstorbenen Kinder löste immer wieder Verzweiflungsanfälle bei ihr aus. Wilhelm und die Kinder wurden oft nachts von Elises Angstschreien geweckt, sie sah im Wahn ein schwarzes Tier auf ihrer Brust sitzen, welches ihr die Luft abdrückte. Wilhelm machte dann sofort das Licht an, er und Konrad sprangen aus den Betten, rissen die Fenster auf und jagten das unsichtbare Tier hinaus. Dann beruhigte sich Elise wieder und alle versuchten wieder einschlafen. Doch für Konrad war das ganze sehr beängstigend, er hatte das Tier noch nie gesehen, nur gehört, wie die Mama geschrieen hatte: „Jagt es weg, jagt es weg, jagt das schwarze, schreckliche Tier weg, es sitzt auf meiner Brust.“ Durch diesen Satz war in der Phantasie der kleinen Helma das Bild von einem zotteligen, schwarzen Tier mit bösen Augen entstanden, sodass sie glaubte, es wirklich zu sehen. Sie zitterte und schluchzte dann vor Angst und Wilhelm musste auch sie beruhigen. Oft rief Elise nachts nach Heinrich und Wilma und bekam dann regelrechte Weinkrämpfe, wenn ihr klar wurde, dass die beiden tot waren. In diesen verzweifelten Phasen nahm sie Konrad und Helma kaum wahr und darunter litt besonders Konrad. Helma war noch zu klein, um durch Elises Verhalten beunruhigt zu sein. Sie konnte sich nicht erinnern, wie die Mama vor dem Tod ihrer Geschwister gewesen war. Aber Konrad wusste es noch genau und sehnte sich nach dieser Zeit zurück. Aber das taten alle in der Familie. Im Sommer 1948 mussten sie dann noch erfahren, dass Wilhelms und Elisabeths Bruder in russischer Gefangenschaft gestorben war. So hörte das Trauern in der Familie nicht auf. Die Frauen trugen immer nur schwarze Kleider und gelacht wurde selten auf dem Hof Trebeis.

Elise hatte sich mit einer Flüchtlingsfrau, die im Gemeindehaus einquartiert war, angefreundet. Anna Watzlav, so hieß diese Frau, hatte einen Sohn, der etwa so alt war wie Heinrich jetzt wäre. Bei der Vertreibung durch die Polen aus ihrer Heimat im Osten war dieser Junge verloren gegangen. Und die arme Frau wusste nicht, ob er noch lebte oder nicht. Sie war eine etwas seltsame Frau, scheu und leicht verschreckt. Außerdem zog sie sich geradezu grotesk an. Die Kinder des Dorfes riefen ihr „Hexe, Hexe“ nach, wenn sie über die Straße huschte. Wilhelm störte es, dass sie ihm nie in die Augen sehen konnte, sondern förmlich flüchtete, wenn er ins Haus kam. Doch Elise taten die Gespräche mit dieser Frau gut und auch seine Mutter und Elisabeth schienen sie zu mögen. Natürlich tat sie ihm auch leid, denn die Ungewissheit über das Schicksal ihres kleinen Sohnes musste furchtbar sein. Kein Wunder, dachte Wilhelm, wenn ein Mensch dann etwas seltsam wird.

Als Konrad zur Schule kam, lebte er sichtlich auf. Denn auf dem Schulhof konnte er mit den anderen Jungen spielen und toben, lachen und schreien, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, weil ja dort niemand traurig war. So musste er auch nicht traurig sein. Er ging gern zur Schule. Nur die Sonntage mochte er nicht besonders, denn dann gingen die Eltern meistens mit ihm und Helma in den Nachbarort, um Opa Konrad zu besuchen. Er hatte den Opa zwar schrecklich gern und wenn sie da waren, war es ja auch schön, aber vorher mussten sie immer noch auf den Friedhof, der auf dem Weg zum Nachbardorf lag.

U
nd davor hätte er sich gern gedrückt. Aber die Mama bestand darauf, sie sagte immer: „Heinrich und Wilma warten schon auf uns, kommt, beeilt euch.“ Und wenn sie dann am Grab der beiden standen, sagte sie: „So, jetzt erzählt euren Geschwistern, was ihr in dieser Woche gemacht habt.“ Helma freute sich immer schon auf diesen Moment, sie glaubte tatsächlich, dass die beiden dort unter der Erde in einer kleinen Wohnung wären und auf sie warteten, um zu hören, was sie in der vergangenen Woche getan hatte. Und ganz unbefangen legte sie los: „Guten Tag Wilma, guten Tag Heinrich, wie geht es euch? Mir geht es gut, und stellt euch vor, unsere Minka hat in der Scheune im Stroh kleine Kätzchen gekriegt, drei rote und zwei graue. Und die Marianne hat ein Baby bekommen und wenn sie es spazieren fährt, darf ich manchmal mitgehen und den Wagen schieben helfen. Tante Elisabeth hat mir ein buntes Röckchen gehäkelt, vielleicht ziehe ich es nächsten Sonntag an, dann könnt ihr es sehen. So, mehr weiß ich heute nicht, wir gehen jetzt zu Opa Konrad und Tante Luise. Wiedersehen Heinrich, Wiedersehen Wilma.“ Dann sagte auch Mama Wiedersehen und dann gingen sie endlich wieder zurück zur Straße und weiter zum Opa.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 14.11.2006