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»Arme Menschen lieben ihre
Kinder so wie vermögendere«

Im Gespräch: Matthias Krieg, Referent für Armut im Erzbistum Paderborn

Paderborn (WB). Matthias Krieg ist Leiter des Referats Schuldnerberatung und Armutsfragen beim Caritasverband für das Erzbistum Paderborn. Fragen von Reinhard Brockmann:
Matthias Krieg, Caritas-Referent für Armut.
Seit langem wird über einzelne Gruppen - von Suchtkranken bis Flüchtlingen - gesprochen, jetzt von einer neuen Unterschicht. Ist diese Zusammenfassung zulässig?Krieg: Bei Kategorisierungen klingeln bei mir immer die Alarmglocken. In der öffentlichen Diskussion werden sie schnell genutzt, um Menschen in Schubladen zu stecken. So verfolge ich mit Entsetzen, wie manche der sogenannten Unterschicht auch zuschreiben, ihre Kinder zu vernachlässigen. Das ist eine ganz perfide Vermischung von Themen, der man schnellstens Einhalt gebieten muss. Wer über wenig Geld verfügt, seinen Arbeitsplatz verloren hat, der geht schlecht mit seinen Kindern um? Das ist Quatsch! Menschen mit wenig finanziellen Ressourcen gehen ebenso liebevoll-sorgend mit ihren Kindern um wie andere, die reicher mit Geld ausgestattet sind.

Wie sieht Armut in Ostwestfalen-Lippe aus?Krieg: Armut geht auch an Ostwestfalen nicht vorbei. Es gibt Menschen in allen Altersstufen, die davon betroffen sind. Sie äußert sich darin, dass den Betroffenen schlicht das nötigste zum Leben fehlt. Sie kommen hinten und vorn mit ihren knappen finanziellen Mitteln nicht zurecht. Das geht letztlich zulasten ihrer Gesundheit. Bestimmte Lebenssituationen können Armut noch begünstigen, wenn man beispielsweise Alleinerziehende betrachtet.
Armut wird nicht offen zur Schau getragen. Deshalb bekommen wir sie nicht immer mit. Sie versteckt sich, weil die Betroffenen befürchten, sozial ausgegrenzt zu werden. Sie tritt allerdings auch immer öfter ans Tageslicht, weil die Hilfesuchenden sich an Einrichtungen der Wohlfahrtspflege wenden, so zum Beispiel bei der Caritas an die Kleiderkammern oder Warenkörbe, bei denen sie kostengünstig einkaufen können.

Sind Hartz-IV-Empfänger grundsätzlich arme Leute?Krieg: Hartz-IV-Empfänger verfügen zunächst über das Notwendigste zum Leben. Aber wehe, es kommt zu einem außerplanmäßigen Ereignis. Dann kann eine Nachzahlung für Energiekosten, der Kauf einer Brille, die notwendige Ersatzanschaffung für ein Haushaltsgerät durchaus dazu führen, dass Menschen mit ihren Geldmitteln auf keinen Fall mehr klar kommen können. Es gibt keine individuelle Notlage mehr, auf die mit einer Einzelfallhilfe reagiert wird. Das sieht der Gesetzgeber grundsätzlich nicht vor. Gott sei Dank steuern diesem rigorosen Kurs die Sozialgerichte häufig entgegen. Das, was das Gesetz vorsieht, ist allenfalls ein Darlehn. Wie soll ich aber ein Darlehn vom geringen ALG II tilgen und was passiert, wenn eigentlich ein weiteres Darlehn erforderlich wäre? Dann trudeln Hartz-IV-Bezieher rasch in Armut. Und noch eins: Obwohl die Lebenshaltungskosten steigen, insbesondere Energie immer teurer wird, obwohl im kommenden Jahr die Mehrwertsteuer deutlich ansteigen wird, ist keine entsprechende Anpassung des ALG II vorgesehen. Ganz im Gegenteil fordern ja schon einige populistisch die Senkung des ALG II. Dann wird natürlich auch Armut immer greifbar näher rücken.

Früher gab es Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe. Hat erst die Zusammenlegung das Problem für alle sichtbar gemacht?Krieg: Die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe hat sicher das Problem sichtbar gemacht. Dadurch, dass zumindest vom Grundsatz her Leistungen aus einer Hand bezogen werden, wird das ganze Ausmaß von Hilfebedürftigkeit in Deutschland offenkundig. Leider verdeckt der Begriff »Arbeitslosengeld II« die Tatsache, dass viele Vollerwerbstätige zum Kreis der Bezieher zählen. Nämlich dann, wenn ihr Verdienst so gering ausfällt, dass sie selbst beim vollen Einsatz ihrer Arbeitskraft nicht davon leben können und zusätzlich ALG II benötigen.
Die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe hat ein Problem mitten in die Gesellschaft getragen, dass von der Bevölkerung als bedrohlich erlebt wird. Ich kann heute noch ein ordentliches Gehalt beziehen und mir davon ein schönes Auto, ein Haus und Reisen erlauben, kann aber schon innerhalb nur eines Jahres zum Empfänger von ALG II werden. Armut kann also jeden treffen.

Ist das neue Schlagwort »Präkariat« - aus »prekär« und »Proletariat« - der Debatte dienlich?Krieg: Im Rahmen wissenschaftlichen Arbeitens mögen Typisierungen sinnvoll und unerlässlich sein. In der öffentlichen Debatte werden solche Begriffe schnell ideologisch vereinnahmt und dienen dann dazu, unzulässige Wertungen über Menschen vorzunehmen.

Artikel vom 18.10.2006