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Und sie waren bei Gott, konnte es denn etwas Größeres, Schöneres geben? Jetzt konnte sie sich ohne Schuldgefühl wieder dem Leben zuwenden. Wenn jetzt das Bild des kleinen Heinrichs, der weinend seine Ärmchen nach ihr ausstreckte, vor ihrem geistigen Auge auftauchte, schob sie dieses neue Bild einfach davor: Ihre Mutter, an einer Hand Heinrich und an der anderen Wilma, alle drei strahlend und lachend, wie sie auf ihren Vater zuliefen, um ihn in jener anderen, besseren Welt, zu begrüßen. Diese Vorstellung linderte ihren Schmerz über den Verlust der beiden, und vor allem der feste Glaube, dass sie alle glücklich vereint waren. Sie wendete sich wieder ihren lebenden Kindern und ihrem Mann zu und gab ihnen all ihre Liebe.

Inzwischen ging es aufwärts in Deutschland, dank der Aufbauhilfe der Alliierten, besonders der Amerikaner. Überall wurde gebaut und in den Geschäften konnte man wieder alles Notwendige kaufen. Auf dem Land waren die „fliegenden Händler,“ wie sie genannt wurden, mit ihren Koffern mit Garderobe, Wäsche oder Besteck, unterwegs. Waren sie in den ersten Nachkriegsjahren noch mit dem Fahrrad mit Anhänger in die Dörfer gefahren, so kamen einige jetzt schon mit Motorrad mit Beiwagen, in dem sie die Koffer verstauten. Es war für die ganze Familie immer ein Erlebnis, wenn dann die Koffer in der Küche geöffnet wurden und man unter all den schönen Pullis, Röcken, oder der Wäsche etwas für sich aussuchen durfte. Der Renner waren Kittelschürzen, sie waren wie ärmellose Kleider geschnitten und vorne ganz durchgeknöpft. Keine Frau sah man im Dorf ohne Kittelschürze. So konnte man seine Kleider schonen. Im Sommer trug man sie ohne Kleid darunter und im Winter über dem Kleid. Immer waren sie geblümt, für die jungen Frauen recht bunt und die älteren bevorzugten dunkle Farben. Auch ganz schwarz gemustert gab es sie, für die Frauen, die Trauer trugen und das waren in den Nachkriegsjahren nicht wenige.

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uf den großen Bauernhöfen übernahmen nach und nach die ersten Trecker die Arbeit der Ackergäule. Auch Hector und Paula durften in den verdienten Ruhestand gehen und ihre letzten Jahre auf der Wiese hinter den Ställen und Scheunen genießen. Nur die Kutschpferde wurden noch gebraucht, um Wege zum Arzt oder Bahnhof oder in die Kreisstadt schneller erledigen zu können. Außerdem besuchte man Sonntags die Verwandtschaft in den umliegenden Dörfern nicht mehr zu Fuß, sondern mit der Kutsche. Die ersten Kinderverschickungen in Erholungsheime in den Bergen oder an der See fanden statt. Auch Helma, die sehr schwache Bronchien hatte und überhaupt ein spindeldürres Mädchen war, wurde in ein Erholungsheim nach Berchtesgaden geschickt. So begeistert sie vor der Abreise in das ferne Bayern, von der Aussicht auf sechs Wochen ohne Schule gewesen war, so jammervoll war der Abschied von zu Hause und besonders von ihrer Mama. Alle beide heulten sich auf dem Bahnhof die Seele aus dem Leib, als der Zug einlief, der die Kinder nach Berchtesgaden bringen sollte.

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nd das Leben in dem Erholungsheim war so streng, dass Helma vor Heimweh noch magerer wurde. Doch sie durfte ihren Kummer nicht einmal nach Hause schreiben, denn die Briefe der Kinder wurden vor dem Absenden durchgelesen und wenn darin etwas Negatives stand, bekam man den Brief zurück und musste einen neuen schreiben. Die Eltern sollten nur Positives über den Aufenthalt ihrer Kinder lesen, damit sie sich nicht unnötig sorgten. Und Heimweh war nun einmal normal bei kleinen Kindern, die das erste Mal von ihren Eltern getrennt waren, da mussten sie eben durch. So einfach war das und so sahen es die Heimleiter. Auch die Päckchen, die von den Eltern an ihre Kinder geschickt wurden, öffneten die Betreuerinnen und verteilten den Inhalt an alle Kinder, damit keines benachteiligt würde. Denn manche Kinder kamen aus so armen Verhältnissen, dass sie nie ein Päckchen bekamen. Die Kinder lebten wie in einer Kaserne, morgens wecken, dann in den Duschraum, die Schwester dreht das warme Wasser der Gemeinschaftsdusche auf und wieder ab. Dann müssen sich alle einseifen und wieder dreht die Schwester das warme Wasser auf und wenn man gerade denkt, ach wie schön warm ist das doch, dann kommt es eiskalt hinterher. Das war gesund und sollte abhärten. Dann durch den kalten Flur zurück in den Schlafsaal und sich anziehen. Anschließend Betten genau nach Vorschrift machen, sich daneben stellen und die Kontrolle von Bett und Schrank über sich ergehen lassen. Wird etwas beanstandet, muss man es noch einmal machen. Es stehen alle Kinder so lange stramm neben ihren gemachten Betten, bis wirklich jedes Bett im Saal perfekt gemacht ist und jeder Schrank ordentlich eingeräumt.

Besonders stark war Helmas Heimweh immer Donnerstag abends, dann dachte sie daran, wie zu Hause die ganze Familie vor dem Radiogerät saß und die Hörspielreihe „Familie Hesselbach,“ hörte. Wenn dann die nette Schwester Annemarie, die als einzige etwas mütterliches an sich hatte, an ihr Bett kam, um mit ihr zu beten, dann musste sie Helma erst einmal in den Arm nehmen und sich ausweinen lassen. Dann ging es ihr wieder besser. Helma hatte von Elise immer so viel Zärtlichkeit und Liebe bekommen, dass sie in diesem Heim unter Entzug litt. Aber schön war es immer, wenn sie alle nach dem Nachtgebet das Lied „Hohe Tannen weisen die Sterne“ sangen.

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s war Helmas Lieblingslied und sie sang, zwar immer falsch, aber mit um so mehr Inbrunst, alle Strophen so laut sie konnte mit. Schwester Annemarie verzog manchmal schmerzlich ihr Gesicht, wenn sie während des Singens neben Helmas Bett stand. Aber sie sah auch, wie begeistert das kleine Mädchen die falschen Töne hinausschmetterte und ihr gutes Herz verbot ihr, die Kleine zu bitten, leiser zu singen, oder es ihr gar ganz zu verbieten. Ihre Kollegin, die an Annamaries freien Tagen mit den Kindern sang, war da nicht so zartfühlend. Sie verbot Helma schlichtweg, mitzusingen. Das war ganz furchtbar für Helma, aber sie flüsterte wenigstens den Text mit, denn der gefiel ihr so gut und sie brauchte dieses Ritual, um danach einschlafen zu können.

Was für ein wunderbarer Tag, als es endlich nach Hause ging! Die Zugfahrt kam Helma endlos vor, sie wünschte sich, fliegen zu können, um schneller wieder zu Hause zu sein. Als der Zug endlich am Ziel war, sah sie schon durch das Fenster ihre Mama am Bahnsteig stehen. Glück pur! Ein Gedrängel, bis sie mit ihrem Koffer endlich aus dem Zug heraus war und auf dem Bahnsteig stand. Und dann hörte sie Mamas Stimme: „Helma, Helma, ach mein Gott Helma, mein Mädchen, wie hast du mir gefehlt“ und dabei wurde sie schon stürmisch von Elise umarmt und abgeküsst. Beide fingen wieder an zu heulen wie Schlosshunde, ach war das schön, sich wiederzuhaben. Zu Hause erwartete Helma die ganze Familie, feierlich vor der Haustür versammelt, als Wilhelm, Elise und Helma mit der Kutsche auf den Hof fuhren. In der Küche war ein Geburtstagstisch für sie gedeckt und jeder hatte ein Geschenk für sie.

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hr Geburtstag war zwar schon gewesen, als sie in Berchtesgaden war, aber jetzt wurde er gebührend nachgefeiert. Am meisten freute sich Helma über die Aufmerksamkeit ihres Bruders, der sie ja sonst nicht sonderlich beachtete. Aber an diesem Tag merkte man, dass auch er sich freute, dass seine kleine Schwester wieder da war. Er fragte sie sogar, ob sie Lust habe, mit ihm Schlitten zu fahren, denn es lag noch hoher Schnee, obwohl doch schon März war. Natürlich hatte Helma Lust, sie wäre überall mit ihm hingegangen, wenn er sie bei sich haben wollte. Sie hing mit großer Liebe an ihrem Bruder und konnte es auf der Welt etwas Schöneres geben, als mit ihm Schlitten zu fahren? Natürlich nicht. Also gingen die beiden, nachdem alle zusammen Kaffee getrunken und Geburtstagskuchen gegessen hatten, noch eine Stunde Schlitten fahren im Garten, der einen langen Hang hatte, an dem man herrlich bis in den Hof hinein rodeln konnte, wenn genügend Schnee lag. Aber dann wurde es schon dunkel und die Sternstunde, in der ihr Bruder mit ihr etwas gemeinsam machen wollte, war für Helma vorbei.

Am nächsten Tag in der Schule war sie der Star und musste eine ganze Schulstunde lang nur von Berchtesgaden erzählen. Natürlich sprach sie nur von den schönen Erlebnissen. Es war zu schön, von allen beneidet zu werden. Das wollte sie genießen. Mag sein, dass sie manchmal etwas übertrieb oder auch etwas dazu erfand, jedenfalls erzählte sie so lebendig, dass der Lehrer sie bat, doch dieses Erlebnis „Erholungsheim“ als Aufsatz zu schreiben. Sie war sowieso mit einer Aufsatzarbeit im Rückstand, da wäre das doch das ideale Thema für sie. Damit hatte der Alltag Helma wieder, aber sie genoss es und beschloss für sich, dass sie nie wieder von zu Hause fortgehen werde.

Doch schon im darauf folgenden Sommer änderte Helma ihre Meinung. Während der Kornernte, als alle Helfer und auch die Kinder auf dem Feld im Kreis zu einer Vesper zusammensaßen, kam ein Mann direkt aus dem grellen Sonnenlicht auf sie zu. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 17.11.2006