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Ihr braucht mich?“ fragte Elise nach, „Du und Konrad, ihr braucht mich?“ Und während sie dies sagte, kniete sie sich zu ihrer Tochter, ließ den Strick los und umarmte sie. Jetzt kam auch Konrad dazu und auch um ihn legte sie einen Arm, da kniete sich auch Konrad hin und konnte endlich weinen und stammeln: „Ja Mama, wir brauchen dich.“ „Ja wenn ihr mich braucht, dann kann ich nicht weggehen,“ sagte Elise und alle drei weinten sie. Aber es war ein erlösendes Weinen. Konrads Wachsamkeit seiner Mutter gegenüber hatte einen weiteren schlimmen Schicksalsschlag in der Familie verhindert.

A
ber Sicherheit gab es für Wilhelm und die Kinder nicht. Die Angst um Elise lag immer wie eine drohende Wolke über ihnen. Und Elise wurde mit der Schuld nicht fertig, dass sie ihre Kinder in den schwersten Stunden allein gelassen hatte, dass sie einsam und verzweifelt vor Heimweh gestorben waren. Diese Schuld war das Tier auf ihrer Brust, das sie nachts nicht schlafen ließ und sie ersticken wollte.

Wochen später, als Wilhelm, Elise und Helma sich nach ihrem sonntäglichen Besuch bei Elises Vater verabschiedet hatten, riss sich Helma plötzlich noch einmal von der Hand ihrer Eltern los und rannte zurück zum Opa, der auf dem Sofa saß. „Opa, Opa,“ sagte sie und kletterte auf seinen Schoß, „du darfst nicht sterben, bitte, du darfst nicht sterben,“ und dann fing sie an zu weinen. Sie legte ihren Kopf an seine Brust und schlang ihre Arme um seinen Hals. Der Opa lachte nur, „Doch, Helma, irgendwann muss auch ich sterben, aber ein bisschen Zeit ist noch.“ Da sah sie ihn ernsthaft an und sagte: „Opa, ich weiß, du stirbst bald, aber ich will das nicht, ich will, dass du hier bleibst.“ Wilhelm und Elise standen wie vom Donner gerührt da, dann verlor Wilhelm die Kontrolle über sich, mit drei Schritten war er beim Schwiegervater, nahm Helma energisch von seinem Schoß und verpasste ihr eine kräftige Ohrfeige, worauf Helma noch lauter weinte. „Du bist sofort still,“ schrie er sie an, „und hör auf, solch einen Unsinn zu reden, kommt, wir gehen jetzt.“ Und zum Schwiegervater gewandt: „Es tut mir leid, aber ich kann nicht mehr und ich kann nichts mehr vom Tod und Sterben hören, kannst du das verstehen? Helma ist ein bisschen überdreht, nimm dir nicht zu Herzen, was sie sagt, und verzeih mir meine Reaktion.“ „Ist schon gut Wilhelm, ist schon gut, aber nimm die Kleine jetzt in die Arme, damit sie sich beruhigt, vielleicht spürt sie ja wirklich mehr als wir, wer soll das wissen. Und dann geht in Frieden nach Hause. Elise, guck nicht so verstört, du siehst doch, es geht mir gut. Helma, hör auf zu weinen, du hast den Papa nur erschreckt, jetzt ist er ja wieder gut. Und nächsten Sonntag sehen wir uns wieder.“ Sie nickten sich noch einmal zu, Wilhelm strich Helma beruhigend über den Kopf und Elise drückte sie fest an sich, dann gingen sie hinaus.

Unterwegs machten sie allerlei Ratespiele mit Helma und Wilhelm war besonders nett zu ihr, denn seine überzogene Reaktion bereitete ihm ein schlechtes Gewissen. Aber er hatte einen riesigen Schreck bekommen, als er Helmas Worte hörte, denn jetzt endlich, ganz allmählich, schien sich ihr Leben etwas zu normalisieren, Elises Angstanfälle in der Nacht waren seltener und nicht mehr so heftig. Er hoffte, dass sie bald wieder eine normale Ehe würden führen können und statt der vielen Tränen auch einmal wieder ein Lachen in seinem Haus zu hören wäre. Und er dachte, wenn Elise auch noch ihren Vater verliert, wird sie wieder in diese tiefe Verzweiflung zurückfallen, in der ich sie nicht erreichen kann. Doch es sollte alles ganz anders kommen. Am Sonntag darauf bekamen sie Besuch von Wilhelms Vetter mit seiner Familie, so dass sie nicht zum Opa gehen konnten. Helma war dies ganz recht, sie mochte überhaupt nicht mehr mit den Eltern wohin gehen, nicht zum Friedhof und auch nicht zu Verwandten. Sie hatte die ungerechte Ohrfeige noch nicht vergessen und verstand auch nicht, warum Papa sie ihr gegeben hatte.

So kamen sie erst zwei Wochen später zum Opa. Tante Luise empfing sie an der Haustür und sagte, dass Opa schwer erkältet sei, deshalb sollte Helma lieber nicht zu ihm in das Wohnzimmer gehen, damit sie sich nicht ansteckte. „Christel ist in der Küche, geh zu ihr, sie soll mit dir spielen,“ sagte sie zu Helma. Das tat Helma auch, aber als Christel von einer Freundin gerufen wurde und hinauslief, schlich sie sich in das Wohnzimmer, um Opa wenigstens „guten Tag“ zu sagen. Opas Bett stand im Wohnzimmer am Fenster, so konnte er hinausschauen, wenn er sich aufrichtete. Und der große Kachelofen machte das Zimmer schön warm. Neben seinem Bett stand ein runder Korb, in dem viele benutzte Taschentücher lagen. Helma ging zu seinem Bett, sagte leise „Opa,“ und er öffnete die Augen, sah sie liebevoll an und sagte: „Du darfst nicht zu dicht an mich herankommen, Helma, damit du dich nicht ansteckst.“ Dann fing er an zu husten, griff nach einem frischen Taschentuch, wovon ein Stapel auf einem kleinen Tischchen neben dem Bett lag und hustete in das Taschentuch. Helma sah staunend, dass der Opa so viel gelben Schleim aushustete, wie sie es noch nie gesehen hatte. Als er das dritte Taschentuch in den Korb geworfen hatte, ließ er sich erschöpft in die Kissen fallen.

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as Husten hatte ihn sehr angestrengt. Helma sah ihm aus respektvoller Entfernung vom Wohnzimmertisch aus zu. Dann sagte sie: „Jetzt hast du aber alles ausgehustet, was an Erkältung in dir war, Opa.“ „Ach Helma,“ antwortete Opa „das war nur wie ein Tropfen auf einem heißen Stein. Aber geh du jetzt bitte wieder hinaus, du willst doch nicht krank werden und auch so und auch so husten müssen, oder?“ Nein, das wollte Helma nicht, sie warf dem Opa eine Kusshand zu, sagte, dass er nächste Woche, wenn sie wiederkäme, bestimmt gesund sei, und ging hinaus. „Nein Helma, deine letzte Vorhersage war besser,“ murmelte Opa Konrad vor sich hin und Traurigkeit überfiel ihn, er wusste, dass er seine Enkelin zum letzten Mal gesehen hatte.

Fünf Tage später kam Hans mit dem Fahrrad zu seiner Tante Elise und bestellte ihr, sie solle so schnell wie möglich zu Opa kommen, es ginge ihm nicht gut und er verlange nach ihr. Elise, die inzwischen auch wieder ein Fahrrad besaß, zog sich nur eine Jacke an und fuhr sofort mit Hans zu ihrem Vater. Er lag im Bett und strahlte, als er seine älteste Tochter sah. Zu der schweren Bronchitis, die ihn seit drei Wochen an das Bett gefesselt hatte, war noch eine Lungenentzündung gekommen und der Arzt hatte gesagt, er würde es nicht mehr schaffen, sein Körper war zu alt und schwach, um sich gegen die Krankheit zu wehren. Aber er hatte es ja auch gewusst, seine Zeit war gekommen und seine Enkelin hatte es als erste gespürt.

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lise umarmte ihren Vater, auch sie sah, dass er gehen würde, und es tat ihr furchtbar weh. Sie war immer Papas Kind gewesen, liebte ihn über alles und der Abschied fiel so schwer. Er war froh, dass er sie noch einmal sehen konnte, seine Lieblingstochter, die ihm in ihrer weichen, herzlichen Art so ähnlich war. Und die soviel erleiden musste, ohne dass er ihr hatte helfen können. „Elise,“ flüsterte er, „Ich gehe jetzt, aber wenn es stimmt, dass wir von dort oben hier runter sehen können, werde ich immer bei dir sein. Bleib tapfer, mein Mädchen, deine Kinder brauchen dich, lass sie und Wilhelm nicht im Stich, versprich es mir.“ „Ja Papa, ich verspreche es dir,“ sagte Elise unter Tränen. Sie hielt seine Hand und streichelte sie und auch sein liebes, gütiges Gesicht.

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lötzlich richtete sich sein Blick nach oben, er versuchte sich aufzurichten und sie musste ihm helfen, stützte seinen Rücken. „Hörst du es Elise,“ sagte er, „hörst du es, sie rufen mich, sie rufen ganz deutlich meinen Namen.“ „Nein Papa, ich höre nichts.“ Dann ging ein Strahlen über sein Gesicht, „Ich sehe sie, Elise, ich sehe sie, sie sitzen an einer langen Tafel, ach, es ist so schön, so schön.“ Dann nannte er die Namen von Bekannten und Verwandten, die bereits gestorben waren. Auch die Namen einiger Kinder. Elise war wie elektrisiert,: „Papa, kannst du Heinrich und Wilma sehen, kannst du sie sehen? Bitte, bitte guck genau hin.“ „Nein Elise, ich sehe sie nicht, es tut mir leid,“ flüsterte er und Elise wandte traurig ihren Kopf nach unten. Doch dann drückte er erstaunlich kräftig ihre Hand, „Marie,“ wurde seine Stimme lauter, „Marie, sie hat Heinrich und Wilma an der Hand, sie lachen und kommen auf mich zu.“ Ein Strahlen überzog sein Gesicht: „ Elise, ich gehe jetzt zu ihnen, leb wohl.“ Und noch einmal flüsterte er mit glücklichem Lächeln den Namen seiner früh verstorbenen Frau: „Marie.“ Dann wurde seine Hand schlaff und Elise ließ ihn sanft in die Kissen zurücksinken.

Sie drückte seine Augen zu, und ließ dann ihren Tränen freien Lauf. Ihre Schwester kam herein, setzte sich ebenfalls an das Bett des Vaters und gemeinsam weinten sie um ihn. Aber die letzten Worte des Vaters hatten Elise endlich von dem schwarzen Tier, welches ihr seit Jahren die Luft abdrückte und sie immer wieder in tiefe Verzweiflung stürzte, befreit. Und so waren ihre Tränen auch Tränen der Erlösung und Erleichterung. Ihre Kinder waren nicht allein, ihre Mutter war immer bei ihnen gewesen und jetzt war auch ihr Vater bei ihnen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 16.11.2006