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Armut ist nicht nur eine Frage von oben und unten, sondern auch von Arbeithabenden und Arbeitslosen.

Leitartikel
Armutsdebatte

Risse in der
Gesellschaft
übertüncht


Von Von Jürgen Liminski
Von Bertholt Brecht stammt der Vierzeiler: »Reicher Mann und armer Mann / standen da und sahen sich an, / und der Arme sagte bleich, / wäre ich nicht arm, wärst du nicht reich.«
In diesen kurzen Versen stecken manche Wahrheiten, auch Definitionselemente von Armut, worüber seit ein paar Tagen hier in Deutschland debattiert wird. Zum Beispiel die relative Armut. Sie ist in der Tat abhängig von der Umwelt, und ein armer Mann hierzulande wäre in anderen Weltgegenden wohlhabend. Aber unabhängig von den Begriffen, das Problem existiert real, auch wenn die Politik sich wie bei Brecht bleich anschaut und ihr Dasein zu definieren sucht.
Wer oder was ist arm? Als arm gelten nach einer Definition der Europäischen Gemeinschaft »Einzelpersonen, Familien und Personengruppen, die über so geringe materielle, kulturelle und soziale Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum hinnehmbar ist«.
Was aber ist das Minimum in Europa, in Deutschland? Und wird es nicht immer ein relatives Minimum geben? Die Armutsdebatte hat kein Ende, solange sie nur um materielle Güter kreist. Denn Armut ist nicht nur eine Frage von oben und unten, sondern auch von drinnen und draußen, von Arbeithabenden und Arbeitslosen. Der Ausschluss aus der Erwerbsgesellschaft ist heute offenbar das Armutszeugnis schlechthin.
Aber auch dafür gibt es die Sozialhilfe. Wo fängt also der Ausschluss an? Die Ärmsten in den Armutsberichten sind seit vielen Jahren schon die Alleinerziehenden und die Kinderreichen. Nun brüstet sich die Regierung mit dem Elterngeld. Geändert hat sich dadurch für die Risikogruppen nichts. Im Gegenteil, sie werden von der Politik noch weiter geschröpft, und da darf man sich nicht bleich fragen, woher auf einmal die vielen Armen herkommen.
Die Armutsrisikoquote ist in den letzten Jahren kontinuierlich ge-stiegen und liegt nun bei 13 Prozent. Aber die Bundesregierung sagt: Es geht uns gut, weil die durchschnittliche Quote in der EU 15 Prozent beträgt. Hier jedoch wird mit Statistikdaten die Wirklichkeit, nämlich die Risse in der Gesellschaft, übertüncht.
Armut hat aber auch mit Emotionen zu tun, ja mit der Fähigkeit, Armut überhaupt wahrzunehmen, also den alten Mann zu beobachten, der mit traurigem Blick im Supermarkt an der Fleischtheke vorbeigeht und sich dafür stattdessen drei Eier holt, oder dem Sozialhilfeempfänger zu glauben, wenn er sagt, dass er zwei Jahre lang für ein neues paar Schuhe spart. Dieses offene Herz, das zuhört und nicht wegschaut, das scheint verlorengegangen zu sein.
Unter den Meldungen des Tages lief auch diese über den Ticker: Madonna holt ihr adoptiertes Baby aus Malawi. Wenigstens ein Mensch der Armut entronnen, könnte man sagen. Dieses Baby mag materiell nun alles haben - außer MutterliebeƉ?

Artikel vom 19.10.2006