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Ban Ki-moon,
neuer UN-Generalsekretär

»Ich mag leise wirken, aber mir fehlt es nicht an Führungskraft oder Engagement.«

Leitartikel
Hilflose Weltgemeinschaft

Uns droht
ein atomares
Jahrhundert


Von Andreas Schnadwinkel
Was hat die Vergabe des Friedensnobelpreises mit Nordkoreas Atomtest zu tun? Eine ganze Menge, wenn man ein Jahr zurückdenkt: Im Jahr 2005 erhielt die Internationale Atomenergie-Behörde (IAEA) diese hohe Auszeichnung. Ein Witz oder ein Skandal? Im Nachhinein jedenfalls eine fragwürdige Entscheidung, wenn man die Entwicklung in den vergangenen zwölf Monaten sieht.
Genau die Staaten, die George W. Bushs Regierung seit Amtsbeginn vor sechs Jahren auf die »Achse des Bösen« setzte, sind im Besitz von Atomwaffen oder stehen technisch davor. Iran und Nordkorea bestätigen die frühen Erkenntnisse der CIA und führen die Weltgemeinschaft vor.
Einen Tag, nachdem der Südkoreaner Ban Ki-moon zum neuen Generalsekretär der Vereinten Nationen (UN) gewählt wurde, zündete Nordkorea einen Atomsprengsatz. Die zeitliche Nähe ist kein Zufall. Kim Jong-il schätzt Kofi Annans Nachfolgeregelung aus seiner Sicht logisch ein: Der Diktator von Pjöngjang erwartet noch härtere UN-Sanktionen, weil ein hoher Diplomat aus dem Nachbarland nun Einfluss auf seine bisherigen Schutzmächte China und Russland im UN-Weltsicherheitsrat ausüben kann.
Die beiden alles andere als demokratisch verfassten Vetomächte scheinen im Moment die Verlierer der nordkoreanischen Bombe zu sein. Moskau und Peking haben über Jahre geostrategischen Politegoismus gegen die konkurrierende Regionalmacht Japan betrieben und dabei gehofft, den nuklearen Erpresser kontrollieren zu können.
Zu Recht fühlt sich Japan von der selbsternannten Atommacht Nordkorea bedroht und strebt, gerade jetzt mit dem neuen Ministerpräsidenten, zum Zweck der Abschreckung und des Selbstschutzes auch zu nuklearen Waffen. Zumal Pjöngjang gestern einen zweiten Test angekündigt und mit »gnadenlosen Schlägen« wegen der Sanktionen gedroht hat.
Wenn Länder wie Iran und Nordkorea in den Besitz von Atomwaffen gelangen, verschieben sich die Machtverhältnisse in ihrem Umfeld. Weder die Türkei noch Saudi-Arabien könnte auf atomare Bewaffnung verzichten, wenn in Teheran der undurchsichtige Machtapparat des islamischen Gottesstaates mit der Bombe hantierte.
Und wenn die Türkei zwischen 2015 und 2020 Mitglied der Europäischen Union (EU) werden sollte, dann wahrscheinlich als Atommacht. Ein Szenarium, das den EU-Beitritt entweder ausschlösse oder im Umkehrschluss zur Folge hätte, dass Deutschland als größtes und wichtigstes EU-Land über eigene Atomwaffen nachdenken müsste. Angesichts der ideologisch aufgeheizten Diskussion schon über die friedliche Nutzung der Technologie zum Energiegewinn scheint diese Vorstellung völlig abwegig.
Bis zu 40 Länder sollen an Atomprojekten arbeiten, darunter Taiwan, Südafrika und Brasilien. Das 20. Jahrhundert ist als Ära der Kriege zu früh historisiert worden, denn uns droht ein atomares Jahrhundert.

Artikel vom 18.10.2006