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»Nur die Sterne
waren wie gestern«

Überlebender des Sonderkommandos erzählt

Bielefeld (uj). »Nach meinem ersten Arbeitstag wollte ich nicht mehr leben«, sagt Henryk Mandelbaum (83) über seine Zwangsarbeit im Sonderkommando von Ausschwitz. Wie durch ein Wunder hat der polnische Jude den Völkermord überlebt. Als einer von wenigen Zeitzeugen fühlt er sich verpflichtet, Zeugnis abzulegen.

»Es freut mich, dass ich noch die Kraft habe, von diesem Inferno zu erzählen. Die Toten haben es überstanden. Sie leben unter uns, wenn wir darüber erzählen. Mehr können wir für sie nicht tun«, hat Mandelbaum der Bielefelderin Raphaela Kula erzählt. Kula ist Mitglied der »Initiative gegen Ausgrenzung«, die in Kooperation mit zahlreichen Vereinen und Arbeitsgruppen eine Ausstellung nach Bielefeld holt, die das Leben des Henryk Mandelbaum vor, während und nach Auschwitz nachzeichnet. »Nur die Sterne waren wie gestern«, so ihr Titel, vermittelt in 48 Fotografien und Zitaten einen persönlichen Einblick in das Erleben eines Menschen, der die Hölle überlebte.
Henryk Mandelbaum wurde 1944 nach Auschwitz deportiert, wo er von der SS für das Sonderkommando ausgewählt wurde. Auf perfide Weise wurden jüdische Häftlinge gezwungen, in den Gaskammern und den Krematorien des Vernichtungslagers zu arbeiten und so zu vermeintlichen Mittätern gemacht. Sie mussten den Juden vor der Vergasung beim Ausziehen helfen und ihnen die Haare abschneiden. Es gehörte ebenso zu ihren Aufgaben, die Leichen der Ermordeten aus den Gaskammern zu den Verbrennungsöfen zu schleppen.
Mandelbaum überlebte drei Selektionen und das von der SS verübte Blutbad nach dem Aufstand des Sonderkommandos im Oktober 1944. Während des Todesmarsches im Januar 1945 gelang ihm die Flucht.
Nach Kriegsende blieb er in Polen, arbeitete unter anderem als Taxifahrer und züchtete Blaufüchse. Noch heute führt er Besuchergruppen durch die ehemaligen Krematorien von Auschwitz. Auch in Begleitung der Ausstellungsmacher, der Autorin Karin Graf, der Historikerin Tina Henkel und dem Fotografen Andreas Dahlmeier, weilte Henryk Mandelbaum an dem Ort der Vernichtung. »Es ist ihnen in respektvoller Weise gelungen, sich dem ehemaligen Häftling des Sonderkommandos anzunähern. Der Mensch verschwindet nicht in seiner Funktion als Häftling und er wird auch nicht vorgeführt. Vielmehr können sich die Besucher ein wirklichkeitsnahes Bild des Überlebenden machen«, unterstreicht Raphaela Kula.
Sie wird Henryk Mandelbaum gemeinsam mit Fritz Bornemeyer mit dem Auto in Gleiwice (Gleiwitz) abholen. »Er ist sehr bescheiden und wollte mit dem Zug reisen. Aber das wollen wir ihm nicht mehr zumuten«, sagt Kula. Mandelbaum hat zugesagt, an der Ausstellungseröffnung teilzunehmen. Am Tag darauf wird sich der Auschwitz-Überlebende auch mit zwei Bielefelder Schulklassen treffen.
»Das Erleben von Zeitzeugen ist uns wichtig«, betont Klaus Rees. Speziell legt der Bündnis-Grüne Schulklassen den Besuch der Ausstellung ans Herz. Interessenten sowie Lehrer, die den Vorabbesichtigungstermin am 16. November, 16 Uhr, wahrnehmen möchten, wenden sich an Konrad Rodehutskors, Telefon 51 35 90.
Die Ausstellung »Nur die Sterne waren wie gestern« wird am Sonntag, 19. November, 11 Uhr, im Murnausaal der Ravensberger Spinnerei, VHS, eröffnet. Sie kann bis zum 17. Dezember täglich von 8 bis 18 Uhr besichtigt werden. Der Eintritt ist frei.

Artikel vom 18.10.2006