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Suppe statt Sonntagsbraten

22 000 Hannoveraner nahmen Evakuierung gelassen hin - Bomben entschärft

Von Martina Steffen
Hannover (dpa). »Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei! Auf Grund einer Bombenentschärfung fordern wir Sie auf, sich aus dem gesperrten Bereich zu entfernen!«

Durch die leeren Straßenschluchten zwischen den Hochhäusern im hannoverschen Stadtteil Sahlkamp hallen Lautsprecherdurchsagen. Beamte gehen noch einmal Streife, klingeln an den Türen, um auch die letzten Mieter aus den Häusern zu holen: In einer der bundesweit größten Evakuierungsaktionen seit dem Zweiten Weltkrieg mussten gestern wegen eines Bombenfunds 22 000 Menschen der niedersächsischen Landeshauptstadt ihre Wohnungen verlassen.
Im Vorgarten eines Einfamilienhauses klaffte da bereits ein riesiges Loch. Nur 4,40 Meter vom Gebäude entfernt bereitet sich ein Sprengmeister darauf vor, die gefährliche Kriegslast im Boden zu entschärfen. Die Familie, die erst im April eingezogen ist, hat am frühen Morgen das Haus verlassen. »Vor zehn Tagen wurden die Bewohner informiert«, sagt Alfred Falkenberg, Sprecher der Feuerwehr Hannover. Einen Teil der Möbel sowie wichtige Dokumente brachte die Familie vorsorglich in Sicherheit - falls die Bombe nicht entschärft, sondern doch gesprengt werden muss...
Was genau für ein Blindgänger in der Erde liegt, weiß Sprengmeister Willi Lückert am Vormittag noch nicht. »Wir haben auf jeden Fall eine sehr starke Messung hier. Das deutet auf eine größere Bombe hin«, sagt er. In unmittelbarer Nähe liegen zwei weitere Bomben, die ebenfalls entschärft werden müssen.
Zur gleichen Zeit bringen Mitarbeiter der Rettungsdienste die Bewohner eines Pflegeheims aus dem Sperrgebiet. Die älteste Bewohnerin ist 98 Jahre alt. Sie kommt, wie 86 weitere Patienten, in eine andere Einrichtung oder in eine Kaserne, in der Ärzte und Sanitäter die Menschen betreuen. »Das Haus wird bereits zum zweiten Mal evakuiert«, sagt Heimleiterin Ulrike Jarosch von Schweder. Die 87 Jahre alte Ursula Gervens nimmt die Aktion gelassen. »Ich bin schon so oft umgezogen und habe in der Kriegszeit viel erlebt, das überstehe ich auch noch«, sagt sie schmunzelnd, als sie in einen Krankenwagen geschoben wird.
Insgesamt 900 Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehr, Hilfsorganisationen und Bundeswehr sind im Einsatz. Gegen Mittag verteilen Malteser Erbsensuppe an die Menschen, die sich in der Turnhalle einer Schule versammelt haben. Dort wartet auch Familie Nassouri darauf, wieder in ihre Wohnung im Sahlkamp zurückkehren zu können. »Die Kinder können hier spielen und es gibt etwas zu essen, wir sind zufrieden«, sagt der Vater. Verärgert ist hingegen Norbert Langkabel. Schon zum dritten Mal musste er aus seiner Wohnung, weil in in der Nähe Bomben entschärft werden mussten. Hannover war nach dem Bombenkrieg beinahe dem Boden gleich.
Die Disziplin der Anwohner lobt Feuerwehr-Sprecher Falkenberg. »Wir hatten gegen neun Uhr eine regelrechte Völkerwanderung zu den Sammelstellen, das hat uns überrascht«, berichtet er.
Am Nachmittag können alle Bewohner in ihre Häuser zurück. Auch die Bombe im Vorgarten ist jetzt entschärft - die Möbel können wieder eingeräumt werden.

Artikel vom 16.10.2006