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Seine Mutter war dabei, das Kaffeegeschirr abzuwaschen, während Elisabeth den übrigen Kuchen in ein Tuch einschlug, damit er frisch bliebe, und ihn in die Speisekammer brachte. Als er die Küche betrat, gebückt, die Hand auf den Magen gepresst, schob ihm seine Mutter sofort einen Stuhl hin, auf den er sich fallen ließ. „Gib mir einen Melissengeist“, sagte er nur und seine Mutter fragte nichts, sondern holte ein Gläschen und die Flasche und goss ihm ein. Er trank es mit einem Zug aus und hoffte, dass der Schmerz und die Kälte im Bauch nachlassen würden. „Ich muss die Klinik anrufen, sie werden mir sagen, dass Wilma tot ist, Annemarie war gerade da,“ sagte er mit gepresster Stimme.

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ann stand er auf und ging hinaus, um sich den Tod seiner kleinen Tochter bestätigen zu lassen. Seine Mutter und Schwester starrten ihm fassungslos nach, wie er gebückt und langsam wie ein uralter Mann das Haus verließ, um zur Post zu gehen. Die beiden Frauen standen wie erstarrt da, die Furcht, dass auch Wilma sterben könnte, war in den letzten Tagen immer in ihren Köpfen und Herzen gewesen. Und jetzt war es traurige Gewissheit, nichts anderes konnte der Anruf bedeuten. Oma kam als erste wieder zu sich: „Schnell Elisabeth, lauf ihm nach, er soll von der Post auch gleich den Doktor anrufen, damit er herkommt und dabei ist, wenn Elise es erfährt.“

Oma, ist Wilma jetzt auch im Himmel bei Heinrich?“ das kleine Stimmchen von Konrad zitterte und Oma Trebeis wurde erst jetzt bewusst, dass ja die beiden Kinder in der Küche waren und alles mitbekommen hatten. Sie hatten unter dem Küchentisch gesessen und gespielt, als ihr Vater hereinkam. Beide mussten gemerkt haben, dass etwas mit ihrem Papa nicht in Ordnung war, denn sie waren sofort ganz still geworden, so dass Oma jetzt richtig erschrak, als sie Konrads Stimme hörte. Sie kniete sich hinunter zu den beiden, nahm die kleine Helma auf den Arm und setzte sich mit ihr auf das Sofa. Auch Konrad kam unter dem Tisch hervor und kuschelte sich dicht neben seine Oma. „ Ja, Konrad, ich glaube Wilma ist jetzt auch im Himmel bei Heinrich, weißt du, sie wollte ihn sicher nicht so ganz allein da oben lassen. Du hast doch noch Helma zum spielen und Heinrich kann jetzt mit Wilma spielen,“ sagte Oma Trebeis und kämpfte mit den Tränen. „Aber sind denn nicht ganz viele Engel im Himmel, mit denen Heinrich spielen kann?“ fragte Konrad. „Doch, doch, da sind schon viele Engel, aber er kennt ja noch keinen und du weißt doch, wie lustig Wilma ist, mit ihr zusammen wird er sicher viel schneller andere Engelkinder kennen lernen.“ Konrad schwieg einen Moment. „Aber sie sind nicht ganz weg, nicht wahr, Oma, sie können uns sehen und hören, oder?“ „Ja, Konrad, sie können uns sehen und hören und wenn du abends betest, kannst du ihnen alles erzählen, was du erlebt hast. Nur wir Menschen hier unten auf der Erde können sie nicht hören und sehen, weil wir ja noch keine Engel sind und unsere Ohren und Augen sind nicht so gut wie die der Engel.“

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as wusste Konrad ja schon von seiner Tante Elisabeth, aber das Oma das auch sagte, machte es noch sicherer. Er umarmte seine kleine Schwester und sagte „Helma, du bleibst hier unten bei mir, Wilma spielt mit Heinrich und du mit mir, ja? Und wenn wir abends beten, erzählst du alles Wilma und ich erzähle alles Heinrich.“ Helma, die sehr sprechfaul war, nickte eifrig mit dem Kopf. Sie liebte ihren Bruder sehr und war immer ganz glücklich, wenn er bereit war mit ihr zu spielen, vor allem, weil sie dann aus dem Laufstall heraus durfte. Oma ließ die beiden wieder unter den Tisch krabbeln, wo sie mit Holzklötzchen Türme und Häuser bauten. Dann trocknete sie das Geschirr ab, wobei sie sich immer wieder die Tränen abwischen musste. Warum strafte Gott sie so? Warum?

Auch die Beerdigung ihrer Tochter nahm Elise nicht wahr, sie lebte in einem durch Medikamente geschaffenen Schutzraum. Und selbst wenn sie einmal wach war, weigerte sie sich, die Realität zu erkennen, sie sprach dann immer ganz glücklich davon, dass ihre Kinder Weihnachten wieder zu Hause seien. Wilhelm hatte große Angst, dass Elise dabei war, ihren Verstand zu verlieren. Und Konrad war völlig überfordert und verwirrt durch das seltsame Verhalten seiner Mama. Sie wollte ihm einfach nicht glauben, dass Heinrich und Wilma im Himmel waren, sie wurde sogar sehr böse, wenn er das sagte.

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arum zog er sich immer mehr von ihr zurück. Es war sehr schwer für den kleinen Jungen, die Erwachsenen waren alle traurig und keiner hatte Zeit für ihn, er durfte nicht laut lachen, nicht laut spielen oder auch mal schreien. Manchmal wünschte er sich, er könnte auch in diesen Himmel gehen, in dem Heinrich und Wilma waren und es sicher lustiger hatten mit den anderen Engelkindern, als er hier unten. Nur wenn sein Opa Konrad kam, von dem er seinen Namen hatte, war es schön. Denn bei ihm durfte er dann auf dem Schoß sitzen und der Opa erzählte ihm spannende Geschichten von den Husaren. In Opa Konrads Haus hing in der guten Stube ein großes Bild von Opa in einer prächtigen blauen Husarenuniform. Der kleine Konrad liebte dieses Bild und wenn er groß war, wollte er auch eine so schöne Uniform tragen und ein tapferer Husar sein. Aber am meisten wünschte er sich, dass seine Mama wieder gesund wäre und mit ihm lachen und spielen würde. Er mochte zwar seine kleine Schwester Helma, aber sie war doch noch sehr dumm, sie konnte noch nicht einmal richtig sprechen. Wenn doch nur Heinrich und Wilma wieder da wären, er vermisste sie so sehr. Und heute war mit Helma gar nichts anzufangen, sie war nur müde, wollte bei der Mama im Bett schlafen und nicht mit ihm spielen. Er ging traurig nach unten in die Küche, vielleicht hatten ja Papa oder Tante Elisabeth Zeit für ihn. Denn Oma, die ihr Spinnrad neben Mamas Bett gestellt hatte, bat ihn immer nur, leise zu sein und die Mama nicht zu wecken. Oma Möller kam auch nicht mehr, sie lag mit einer Bronchitis im Bett. Ihm war furchtbar langweilig, draußen war es zu kalt zum Spielen und drinnen musste man immer leise sein.

Aber dann hatte Tante Elisabeth eine wichtige Aufgabe für ihn, sie zeigte ihm, wie man aus Zwirnsfäden, Stroh und bunten Papierschnipseln Girlanden für den Weihnachtsbaum basteln konnte. Das machte ihm Spaß und Mama würde sich freuen, wenn sie seine schönen Girlanden an den Weihnachtsbaum hängen konnte. Mit Feuereifer machte er sich an die Arbeit und die Tante half ihm, wenn etwas nicht klappte. Nebenbei kochte sie das Mittagessen und legte Wäsche zusammen. Sie erschraken beide, als sie Elise oben schreien hörten: „Nein, nein, Helma hörst du mich? Oh mein Gott, was soll ich tun? Oma, so helft mir doch, nicht auch noch Helma!“ Und ihre Stimme ging in lautes Schluchzen über. Dann hörten sie auch schon Omas aufgeregte Stimme von oben: „Elisabeth, hol Wilhelm aus dem Stall, er soll sofort den Doktor rufen.“ Elisabeth lief aus der Küche nach oben, um zu sehen, was passiert war. Konrad hatte einfach nur Angst und verkroch sich wieder unter den Tisch. Als Elisabeth das Zimmer betrat, saß Elise aufrecht im Bett, hielt die kleine Helma in den Armen und Oma fühlte mit der Hand Helmas Stirn. Und dann hörte sie mit Entsetzen, dass Helma hustete. Schnell lief sie wieder nach unten und sagte Wilhelm Bescheid. Ohne ein Wort zu sagen, holte er seine Jacke aus dem Haus und ging die Dorfstraße hinauf zur Post. Er fühlte gar nichts mehr, er war leer, ausgebrannt, zu keiner Reaktion mehr fähig und handelte ganz automatisch.

Elisabeth eilte wieder zu Elise und ihrer Mutter. Elise hatte Helma immer noch im Arm, wirkte aber plötzlich ganz klar und ruhig. Die Angst um Helma hatte sie aus der Benommenheit gerissen, in die sie sich in den letzten Tagen mit Hilfe von Medikamenten geflüchtet hatte. Sie sah Elisabeth ganz ruhig an und sagte mit fester Stimme: „Elisabeth, keiner nimmt mir dieses Kind weg, keiner.“ Dann richtete sie ihren Blick wieder auf Helma und schwieg. „Nein, Elise, keiner wird dir Helma wegnehmen,“ antwortete Elisabeth, „wir alle werden es nicht zulassen, aber was ist mit ihr?“ Ihre Mutter antwortete: „Helma war schon den ganzen Morgen müde und quengelig, sie wollte nur zu ihrer Mama ins Bett und hatte auch keine Lust, mit Konrad zu spielen. Da habe ich sie neben Elise ins Bett gelegt und sie ist sofort eingeschlafen. Aber im Schlaf hat sie plötzlich gehustet und Elise ist dadurch wach geworden, hat die Kleine neben sich gesehen und ihr Gesichtchen gestreichelt. Dabei hat sie bemerkt, dass sie Fieber hat, weil ihre Stirn so heiß ist. Und dann hat Helma die Augen geöffnet, nach oben gezeigt und mit einem Strahlen „da, Ina und Heia“ gerufen.“ Sie sah zu Elise hin, dann flüsterte sie: „Mir ist es eiskalt den Rücken runtergelaufen, weißt du was das bedeutet, Elisabeth? Unsere kleine Helma hat Heinrich und Wilma gesehen, sie ist auf dem Weg zu ihnen.“ Dann konnte sie nicht mehr weitersprechen, sie legte ihr Gesicht in die Hände und weinte. Elisabeth nickte und dachte nur immer: „Wir können das nicht aushalten, kein Mensch kann das aushalten,“ dann ging sie aus dem Zimmer nach unten in die Küche, denn dort war Konrad allein und bestimmt völlig verängstigt durch die Schreie seiner Mutter. Er brauchte sie jetzt.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 11.11.2006