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Wilhelm hatte sein Gesicht in den Händen vergraben und stöhnte, endlich wusste er, was Elise heute durchlebt hatte und was man ihr und den Kindern angetan hatte. Ja, es tat weh, es tat so weh, jetzt auch noch zu wissen, wie einsam und verzweifelt sein Junge gewesen sein musste. Warum hatte man ihnen nicht gesagt, dass es so schlimm um den Jungen stand und womöglich auch um Wilma. Warum lässt man dann nicht die Mutter zu den Kindern, sie kann doch genauso gut, wenn nicht besser, die Kinder pflegen. Elise hätte doch dort bleiben können, eine Hilfe für die Schwestern. Warum waren Krankenhaus-Regeln wichtiger als das Heimweh und die Sehnsucht der Kinder? Wie sollten sie mit dem Wissen über die Verzweiflung und Einsamkeit der letzten Stunden ihres Kindes weiterleben? Er musste Wilma nach Hause holen, er würde sie nicht allein zurücklassen, wenn er morgen seinen Sohn holte. „Wilhelm,“ riss ihn Oma Möllers Stimme aus seinen Gedanken, „ich glaube, Elise wird jetzt müde, bring sie nach oben, sie wird gleich einschlafen.“ Er stand auf und half seiner Frau, die völlig apathisch an Oma Möllers Schulter lehnte, vom Sofa aufzustehen, hakte sie unter und sagte: „Komm Elise, wir müssen jetzt schlafen gehen, ich bringe dich nach oben.“ „Ist Heinrich auch oben“, fragte Elise mit leiser, müder Stimme, „dann will ich auch dorthin“.

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erzweifelt blickte Wilhelm zu den Frauen hin, sagte: „Ja Elise“ und führte sie aus der Küche, die Treppe hinauf und in das Schlafzimmer. Elise blieb an dem Kinderbettchen stehen, in dem Helma schlief, schaute dann in Wilmas leeres Bettchen und fing wieder an zu wimmern. Sie hob den Blick zum Bett der beiden Jungen und auch neben Konrad war der Platz leer, sie ging hin, strich Konrad über die Wange und nahm behutsam Heinrichs Kopfkissen an sich. Wilhelm nahm sie am Arm und führte sie zu ihrem Ehebett, die Tropfen von Oma Möller wirkten schon, so dass Wilhelm ihr beim Ausziehen ihrer Stallkleidung helfen musste. Sie ließ willenlos alles mit sich geschehen, legte sich hin und griff wieder zu Heinrichs Kissen, in das sie ihr Gesicht drückte. Wilhelm hörte, wie sie ganz leise „Heinrich, ich komme bald,“ murmelte, dann siegte der Schlaf über den Schmerz. Wilhelm deckte sie sorgfältig zu, strich mit der Hand über ihr Gesicht und erhob sich dann schwerfällig, um wieder nach unten zu gehen. Er vergewisserte sich, dass Konrad und Helma schliefen, zog ihre verrutschten Decken hoch und ging nach unten.

Es musste so viel besprochen werden, er konnte sich nicht gehen lassen, obwohl auch er sich gerne mit Oma Möllers Schlaftropfen betäubt und in den Schlaf geflüchtet hätte. Er musste für Elise und die Kinder stark bleiben. Als er wieder in die Küche kam, schlug die Uhr im Wohnzimmer zwölf mal. Es war also schon Mitternacht. Sie besprachen, was am nächsten Tag zu tun war, wer Elises Familie, die übrige Verwandtschaft, den Pfarrer und den Schreiner benachrichtigen würde. Wilhelm bat Oma Möller, doch am nächsten Morgen wieder zu kommen, damit jemand bei Elise wäre, wenn sie alle im Stall waren. Dann begleitete er sie durch die Dunkelheit nach Hause.

Als er wieder zurückkam, waren seine Mutter und Elisabeth schon schlafen gegangen. Auch Wilhelm ging nach einem Rundgang durch die Ställe zu Bett. Neben sich hörte er Elise, dank der Schlaftropfen, ruhig atmen. Auch er war jetzt so erschöpft, dass er in einen unruhigen Schlaf fiel. Morgens um fünf Uhr wurde er wach, weil seine Schwester auf seine Schulter tippte und leise seinen Namen sagte. Sie hatte das Licht nicht angemacht, damit Elise und die Kinder nicht wach würden, nur vom Flur schien etwas Licht in das Schlafzimmer. „Du musst aufstehen Wilhelm,“ sagte sie ganz leise, „nimm deine Sachen mit nach unten, du kannst dich in der Küche anziehen, damit Elise und die Kinder nicht wach werden. Ich habe schon Feuer angemacht. Nachher bringe ich etwas Glut hier in den Ofen und lege eine Kohle, auf damit es nicht zu kalt ist. Konrad und Helma holt Mutter später nach unten. Fang du schon mal im Stall an, Adolf kommt sicher auch gleich und ich komme nach, sobald Oma Möller da ist. Mutter und Vater schlafen Gott sei Dank noch, ich lasse sie auch, denn es ist gestern Abend doch sehr spät geworden, und sie haben bestimmt nicht gleich einschlafen können.“ Wilhelm sah seine Schwester einen Moment schlaftrunken und verwirrt an, bis mit dem Erwachen auch die schreckliche Wahrheit sein Bewusstsein erreichte. Er nickte seiner Schwester zu, nahm seine Sachen und folgte Elisabeth nach unten in die Küche.

Das Feuer im Herd verbreitete schon eine angenehme Wärme. Wilhelm zog sich an und ging in den Stall. Eine halbe Stunde später kamen auch sein Vater und Adolf. Schweigend gingen sie ihrer täglichen Arbeit nach. Als Elisabeth in den Stall kam, um ihm beim Melken zu helfen, sagte sie auf seinen fragenden Blick hin: „Sie schläft noch, Mutter ist bei ihr und passt auf.“ Oma Möller kam gegen halb acht, ging nach oben in das Schlafzimmer und löste Wilhelms Mutter bei der Wache an Elises Bett ab. Die beiden alten Frauen umarmten sich schweigend, jede hatte in ihrem Leben schon schwere Schicksalsschläge hinnehmen müssen, sie wussten, wie furchtbar das Erwachen für Elise sein würde und auch, dass es keinen Trost gab.

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ma legte noch ein Scheit Holz in den kleinen Kanonenofen, der im Schlafzimmer stand und den Elisabeth angeheizt hatte. Dann ging sie nach unten, um das Frühstück für alle zu machen. Oma Möller setzte sich auf den Stuhl neben Elises Bett und hörte auf die Atemzüge der Kinder und die zunehmend unruhigeren von Elise. Sie würde bald aufwachen aus diesem barmherzigen Schlaf und das Erkennen der grausamen Wirklichkeit würde furchtbar sein. „Bitte, lieber Gott, lass sie noch ein wenig schlafen, lass sie noch nicht aufwachen, ich bitte Dich,“ flüsterte Oma Zeller, obwohl es ihr an diesem Morgen schwer fiel, an einen „lieben“ Gott zu glauben.

Das Frühstück blieb an diesem Morgen nahezu unberührt, die Trauer war so groß, dass sie jedes andere Gefühl, auch den Hunger, erstickte. Wilhelm machte sich auf den Weg zum Bahnhof und Opa, Elisabeth und Adolf übernahmen es, die Verwandten, den Pfarrer und den Schreiner zu benachrichtigen. Während so alle ihren traurigen Pflichten nachkamen, ging Oma Trebeis nach oben, um Konrad und Helma zu sich in die Küche zu holen, sie sollten nicht dabei sein, wenn ihre Mama wach wurde. Der Schmerz ihrer Mutter würde die Kinder, die ohnehin durcheinander waren, noch mehr ängstigen. Gott sei Dank schlief Elise noch. „Psst, psst, leise, damit Mama nicht wach wird,“ flüsterte Oma, als sie die beiden weckte. Die Kinder waren noch so schlaftrunken, dass sie keine Probleme hatte, sie fast geräuschlos aus dem Zimmer zu holen. Helma nahm sie auf den Arm und Konrad an die Hand, so gingen sie vorsichtig die steile Treppe nach unten in die Küche.

Inzwischen waren einige Stunden vergangen, Wilhelm saß im Wartesaal des Bahnhofes in Marburg und in seinem Kopf hörte er noch einmal alles, was der Oberarzt der Kinderklinik zu ihm gesagt hatte: „Es tut mir wirklich leid, Herr Trebeis, wir haben getan, was wir konnten, aber leider hat es nicht gereicht. Ihr Sohn war sehr krank, als er hier eingeliefert wurde, ich meine damit nicht den Keuchhusten, nein, ich meine sein schlechtes Blutbild. Seine weißen Blutkörperchen hatten sich schon unnatürlich vermehrt und damit seine Abwehrkräfte derartig geschwächt, dass er dem Keuchhusten nichts entgegen zu setzen hatte und dann auch noch eine doppelseitige Lungenentzündung bekam. Ihr Sohn hatte Leukämie, Herr Trebeis, und damit keine Überlebenschance. Bei ihrer kleinen Tochter sieht es leider auch sehr ernst aus, sie hat zwar keine Leukämie, aber sie ist noch so klein, ihr Abwehrsystem noch nicht stark genug, ich weiß nicht, ob wir es schaffen werden, sie über den Berg zu bringen. Ich verspreche ihnen, dass ich alles tun werde, was in meiner menschlichen Macht steht. Aber ohne gute Medikamente, ich denke dabei an dieses neue Medikament Penicillin, habe ich wenig Hoffnung. Und ob wir dieses Medikament bekommen, hängt von unseren Besatzern ab. Wir werden von den Amerikanern zwar unterstützt, aber es dauert alles viel zu lange. Der Weg durch die Instanzen, sie verstehen? Leider können wir ihren Sohn heute noch nicht freigeben, ich möchte sie nur bitten, die erforderlichen Formulare hier zu unterschreiben. Wir werden ihren Sohn dann übermorgen nach Hause überführen. Nochmals, Herr Trebeis, mein tief empfundenes Beileid für sie und ihre Frau.“ Dann war er aufgestanden, hatte Wilhelm die Hand gegeben und die unterschriebenen Papiere an sich genommen.

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r, Wilhelm, der die ganze Zeit stumm gewesen war, hatte sich geräuspert und gefragt: „Herr Doktor, kann ich meine Tochter sehen oder vielleicht sogar mit nach Hause nehmen, sie soll nicht so verlassen und einsam sterben wie ihr Bruder.“ Dann hatte seine Stimme versagt, er musste mehrmals schlucken, um nicht in Tränen auszubrechen vor diesem so überlegen wirkenden Arzt. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.11.2006