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Das war sehr viel für Konrad, darüber musste er erst einmal nachdenken, aber dass Heinrich nie mehr wiederkommen sollte, machte ihn so traurig, dass er wieder anfing zu weinen. Elisabeth ließ ihn weinen, streichelte weiter seinen Kopf und blieb bei ihm, bis er eingeschlafen war. Dann ging sie nach unten in die Küche.

Elise war inzwischen wieder zu sich gekommen, sie zitterte am ganzen Körper, ihre Augen glänzten fiebrig und sie streckte ihre Arme nach ihrem, nur für sie sichtbaren Sohn aus und rief immer wieder: “Heinrich, ich komme, ich lasse dich nicht allein, ich komme zu dir.“ Dabei versuchte sie aufzustehen, doch die Beine versagten ihr. Wilhelm, der auf einem Stuhl neben dem Sofa gesessen hatte, war mit einem Satz bei ihr und verhinderte, dass sie auf den Boden fiel. Er versuchte, sie zu beruhigen, aber sie ließ sich nicht beruhigen, denn in ihrem Fieberwahn sah sie Heinrich vor sich, wie er die Arme ausstreckte und nach ihr rief. Schließlich hob er sie auf seine Arme und setzte sie wieder auf das Sofa. Dann nahm er neben ihr Platz und legte seinen Arm um ihre Schultern, damit sie nicht wieder aufstehen konnte. Elise hörte auf zu rufen und fing an zu weinen, erst ganz leise und dann immer lauter.

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ilhelms Mutter stand am Herd und brühte Tee auf. Sie winkte Elisabeth zu sich und sagte leise: „Hol Oma Möller her und sag ihr, sie soll bitte ihre Schlaftropfen mitbringen, beeil Dich.“ Oma Möller war die Schwiegermutter von Elisabeths und Wilhelms jüngster Schwester und Elise hatte sofort, als sie die alte Dame kennen gelernt hatte, ein besonderes Vertrauensverhältnis zu ihr aufgebaut. So wie sie es zu Wilhelms Mutter leider nicht hatte. Oma Trebeis konnte mit Elises starker Emotionalität wenig anfangen, sie war gewohnt, ihre Gefühle für sich zu behalten und nicht nach außen zu tragen. Und Elises Art, himmelhoch jauchzend und dann wieder zu Tode betrübt zu sein, war ihr fremd. Im Gegensatz zu Oma Möller, die eine so herzliche Art hatte, dass Elise ihr sofort vertraute. Sie waren beide sehr gefühlsbetont und hatten sich in den schwierigen Kriegsjahren, da Oma Möller ihren einzigen Sohn an der Front wusste, ebenso wie Elise ihren Wilhelm, gegenseitig Trost gespendet. Aus dieser Verbundenheit heraus würde sie vielleicht die richtigen Worte für Elise finden, sie in ihrem Schmerz erreichen, eher als einer von ihnen, dachte Oma Trebeis.

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lisabeth band sich ein Tuch um Kopf und Schulter und lief so schnell sie konnte durch die Gassen des Dorfes zu dem Haus ihrer Schwester und deren Schwiegermutter. Als sie in die Küche ihrer Schwester kam, bot sich ihr ein friedliches Bild: Oma Möller, deren graues, zu einem Knoten im Nacken frisiertes Haar unter dem Lampenschirm silbrig glänzte, strickte an einem Pullover. Ihr rundes, gutmütiges Gesicht war Lotte zugewandt, die ihr aus der Zeitung vorlas. Elisabeths Schwester wurde von allen nur Lotte genannt, obwohl sie Charlotte hieß. Im Gegensatz zu Elisabeth, war sie gertenschlank und hatte ein sehr schmales Gesicht. Sie hatte einen kleinen Sohn von sieben Jahren, der für sie und ihre Schwiegermutter der Lebensinhalt war, um den sich alles drehte, zumal sein Vater, ihr Mann Karl, noch immer nicht aus der Gefangenschaft heimgekehrt war. Karl war gelernter Schuster, wie sein Vater es gewesen war, aber die Schusterwerkstatt stand jetzt leer, auch der Geselle war noch nicht aus der Gefangenschaft heimgekehrt. Und im oberen Stockwerk waren jetzt zwei Zimmer an eine Flüchtlingsfamilie vergeben. Lotte hatte unten, in der Kammer neben der Küche einen kleinen Schuhladen eingerichtet. Damit und mit einer kleinen Landwirtschaft, mit einer Kuh und drei Ziegen, kamen sie ganz gut über die Runden. „Elisabeth,“ riefen beide erstaunt wie aus einem Mund, als sie die Küche betrat, „ist etwas passiert?“ Elisabeth brach in Tränen aus, sank auf den nächsten Stuhl und sagte: „Ja, unser Heinrich ist heute Abend gestorben und wir haben Angst um Elise. Ich glaube, sie verliert den Verstand. Sie ruft ständig nach Heinrich, streckt die Arme nach ihm aus, als würde er auf sie zukommen. Es ist so schrecklich, bitte Oma Möller, könnt ihr mit mir kommen und eure Schlaftropfen mitbringen?“ Beide Frauen schlugen die Hände vors Gesicht und sahen Elisabeth entsetzt an. „Oh mein Gott, oh mein Gott“, stöhnte Oma Möller, „natürlich komme ich mit, warte hier, ich hol nur schnell die Tropfen.“

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ie verließ die warme Küche und ging in das kalte Schlafzimmer, dort musste sie sich an der Bettkante festhalten, die Nachricht war ihr in die Glieder gefahren und sie musste sich erst wieder in den Griff kriegen, ehe sie mit Elisabeth gehen konnte. Sie setzte sich auf einen Stuhl, weinte um den kleinen Heinrich, betete für Wilma und bat Gott, doch wenigstens dieses Kind wieder gesund werden zu lassen und seiner Mutter den Verstand zu erhalten. Am liebsten hätte sie jetzt selbst Schlaftropfen genommen, sich in ihr Bett gelegt und sich in den Schlaf geflüchtet, um die schreckliche Wahrheit noch nicht begreifen zu müssen. Doch jetzt musste sie stark sein, sie atmete tief durch, putzte sich die Nase, nahm das Fläschchen mit den Schlaftropfen und ging wieder zurück in die Küche. Auch Elisabeth und Lotte hatten geweint. Elisabeth verabschiedete sich von ihrer Schwester und half Oma Möller in ihren Mantel.

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iese band sich noch ein Kopftuch um, nahm den Spazierstock und dann verließ sie an Elisabeths Arm das Haus. Sie gingen die Gasse hinunter zu Trebeiss Hof und unterwegs erzählte Elisabeth Oma Möller den genauen Ablauf des Abends. Es war sehr dunkel, weil der Mond hinter den Wolken versteckt war und in den meisten Häusern zu dieser späten Stunde schon kein Licht mehr brannte. Als sie in die Hofeinfahrt kamen, sahen sie im Licht der Hoflaterne, dass Elisabeths Vater gerade den Stall verließ, in dem er allein um seinen Enkel getrauert hatte. Er kam zu ihnen und Oma Möller drückte ihm die Hand und sprach ihr Beileid aus.
Er sah sie traurig an, nickte nur und ging dann ins Ellerhaus. Er konnte jetzt nicht noch einmal in das Haus seines Sohnes gehen, er wollte allein sein. Diesen kleinen Jungen, der seinen Namen trug, hatte er geliebt.

Als Elisabeth und Oma Möller in die Küche kamen, sahen sie Elise neben Wilhelm auf dem Sofa sitzen. Sie hielt den Schulranzen von Heinrich auf ihrem Schoß und Ihre Hände strichen unaufhörlich darüber. Dabei murmelte sie seinen Namen und immer wieder kam ein Wimmern aus ihrer Brust. Wilhelm sah so hilflos und verzweifelt aus, neben seiner Frau, dass es Oma Möller im Herzen weh tat. Sie sprach ihm und seiner Mutter ihr Beileid aus und drückte ihnen fest die Hände, worauf bei beiden wieder die Tränen kamen. Elisabeth stellte Tassen auf den Tisch und goss allen einen heißen Tee ein. In Elises Tasse gab Oma Möller einen ganzen Teelöffel von ihren Schlaftropfen.

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ann bat sie Wilhelm, aufzustehen und ihr seinen Platz zu überlassen. Sie setzte sie sich neben Elise und wollte ihr vorsichtig den Ranzen vom Schoß nehmen, doch Elise klammerte ihre Hände darum und ließ ihn sich nicht abnehmen. Sie schien Oma Möller noch gar nicht bemerkt zu haben, so tief hatte sie sich in eine eigene Welt zurückgezogen. Diese fing nun an, ihr mit der Hand langsam und fest immer wieder über den Rücken zu streichen, immer und immer wieder, dann hielt sie ihr die Tasse mit dem Tee hin und sagte: „Komm Elise, trink deinen Tee, trink ihn, solange er noch warm ist, trink, mein Mädchen, du musst etwas trinken, trink für Konrad, trink für Helma, trink für Wilma. Und wenn du ausgetrunken hast, werden wir zusammen für Wilma beten und um Heinrich weinen.“

Elise ließ den Schultornister los, nahm die Tasse und trank sie brav wie ein Kind aus. Oma Möller nahm den Tornister weg, legte ihn neben Elise auf das Sofa, lehnte sich selbst zurück, zog Elise in ihre Arme und streichelte weiter ihren Rücken. Leise wimmernd legte Elise ihren Kopf an ihre Schulter und flüsterte: „Er ist tot, mein Heinrich ist tot, oh Gott was soll ich denn bloß tun, es tut so weh, es tut so weh. Er war ganz allein, so allein, ich halte das nicht aus Oma Möller, ich kann es nicht aushalten, ich habe ihn allein gelassen, in seiner schwersten Stunde war er ganz allein. Er hat seine Ärmchen nach mir ausgestreckt und nach mir gerufen, aber sie haben mich nicht zu ihm gelassen. Sie haben gesagt, ich rege ihn nur auf, ich soll nach Hause gehen, sie werden sich um ihn kümmern und er wird Weihnachten wieder zu Hause sein, wenn ich nur endlich gehe, damit er Ruhe hat und gesund werden kann. Aber sie haben ihn nicht getröstet, sie haben seine Mama weggeschickt und er war allein, seine Mama hat ihn verlassen, da ist sein kleines Herz gebrochen. Warum haben sie mich nicht zu ihm gelassen, warum durfte ich ihn nicht in die Arme nehmen, warum nur diese Scheibe, diese Scheibe? Warum durfte eine fremde Schwester zu ihm, warum nicht ich? Und Wilma, ach Wilma, ist auch allein, ganz allein, ihr Heia ist nicht mehr bei ihr und ich habe sie verlassen, oh Gott, ich halte das nicht aus.“ Und weinte und weinte an Oma Möllers Schulter. Und mit ihr weinten auch Elisabeth und die beiden alten Frauen.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.11.2006