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Herr Trebeis, hier spricht Obertschwester Gertrud, es tut mir sehr leid, ihnen mitteilen zu müssen, dass ihr Sohn Heinrich vor etwa einer Stunde verstorben ist. Wir haben alles versucht, aber die Krankheit war zu schwer, doppelseitige Lungenentzündung und Keuchhusten, das konnte sein kleiner Körper nicht mehr schaffen. Ich möchte sie bitten, doch morgen hierher zu kommen, um die nötigen Formalitäten wegen der Überführung zu erledigen. Hören sie mich Herr Trebeis? Haben sie verstanden was ich gesagt habe?“ „Ja,“ presste Wilhelm heraus. „Glauben sie mir, es tut uns allen unendlich Leid, wir haben unser menschenmöglichstes getan, aber letztlich doch verloren. Dann war Stille in der Leitung. Auch Wilhelm sagte nichts. Nach einer Minute räusperte sich Gertrud und sagte: „Bitte kommen sie morgen Vormittag und fragen sie nach Schwester Gertrud. Haben sie alles verstanden Herr Trebeis?“ „Ja,“ sagte Wilhelm. „Gut, dann also bis morgen.“ Dann legte sie auf.

Wilhelm hielt den Hörer immer noch an das Ohr gepresst, er war unfähig, sich irgendwie zu bewegen. In seinem Kopf dröhnten die Worte: Heinrich ist tot, Heinrich ist tot und er konnte nichts anderes denken: Heinrich ist tot. Er sah seinen kleinen Sohn vor sich, wie er fröhlich mit Konrad fangen spielte, mit seinen kleinen Schwestern herumalberte oder seinem Vater bei der Arbeit helfen wollte, wie hatten seine blauen Augen gestrahlt, wenn er ihn gelobt hatte. Alle hatten seinen kleinen blonden Jungen geliebt. Sogar sein Vater, der Kinder eigentlich nicht sonderlich mochte, war Heinrich gegenüber immer ganz liebevoller Opa gewesen. Während er Konrad und die Zwillinge kaum beachtet hatte, durfte Heinrich ihn bei seinem Rundgang durch die Ställe begleiten und er nahm sich viel Zeit, um dem Kleinen zu erklären, wie die Tiere versorgt werden mussten. Und Heinrich, der sehr lernbegierig war, hatte es geliebt, an der Hand des Opas durch die Ställe zu gehen, er hatte alle Tiere mit Namen begrüßt und dem Opa aufmerksam zugehört. Und jetzt sollte dieser wunderbare Junge tot sein? Vielleicht würde er ja gleich aufwachen und alles wäre nur ein schrecklicher Albtraum gewesen. Doch es war grausame Wirklichkeit.

Kathrin Hecke nahm Wilhelm den Hörer aus der Hand und schloss das Fenster. Dann kam sie raus in den Flur und schob Wilhelm, der bewegungslos und leichenblass an der Wand lehnte, in ihre Küche. Er ließ sich von ihr zu einem Stuhl am Küchentisch führen, setzte sich und starrte verzweifelt vor sich hin, ohne jedoch ein Wort über die Lippen zu bringen. “Was ist los Wilhelm, du zitterst ja, was ist mit deinen Kindern, was haben sie dir gesagt?“ Langsam hob Wilhelm den Kopf, sah Kathrin an und sah sie doch nicht, seine Lippen bewegten sich, aber kein Laut kam aus seinem Mund. Nach mehreren Versuchen gelang es ihm endlich zu sprechen: „Heinrich ist tot, unser Heinrich ist vor einer Stunde gestorben.“ Und dann fing er an zu weinen, wie Kathrin noch nie einen Mann hatte weinen hören, ganz leise und monoton, dabei wiegte er seinen Oberkörper immer vor und zurück und hielt sein Gesicht in den Händen verborgen. Kathrin stand auf und strich ihm beruhigend über den gebeugten Rücken, wobei sie murmelte: „Wein nur, Wilhelm, wein nur. Das ist alles, was du im Moment tun kannst und was deine Seele braucht.“ Sie hatte ihren Mann im Krieg verloren und wusste, wie sehr der Tod eines geliebten Menschen schmerzt. Aber der Tod des eigenen Kindes musste noch viel, viel grausamer sein, vor allem, da dieser Vater nicht einmal Abschied hatte nehmen können. Sie dachte an Elise und wie sie das verkraften sollte, mein Gott, Wilhelm musste diese schreckliche Nachricht nun seiner Frau überbringen. Entschlossen ging sie an den Küchenschrank und holte die Flasche Korn aus dem Versteck. Sie goss ein Schnapsglas voll und stellte es vor Wilhelm hin. „Trink,“ sagte sie. Wilhelms Weinen brach ab, er hob den Kopf, sah das Schnapsglas, schüttelte nur den Kopf, wischte sich die Augen und stand auf. Schnaps war das Letzte, was er jetzt brauchte. Er musste nach Hause, zu Elise, es ihr sagen und sie auffangen, wenn sie fiel, denn sie würde fallen, in dieses tiefe Loch, in dem auch er jetzt war. Er stand auf, gab Kathrin die Hand, sagte nur: „Danke,“ und ging hinaus. Kathrin trank das Schnapsglas in einem Zug leer, setzte sich wieder an den Tisch und ließ ihren mühsam zurück gehaltenen Tränen freien Lauf.

Wilhelm ging nach Hause und blieb lange vor der Haustür stehen, um all seine Kraft zu sammeln, die er brauchte, um die nächsten Stunden zu überstehen. Als er in die Küche kam, saßen nur noch sein Vater, seine Mutter, seine Schwester und Elise am Tisch und sahen ihn angstvoll an. Die Kleinen waren wohl schon im Bett. Er ging erst zu Elise, nahm sie in den Arm und fragte sie mit gepresster Stimme, wie es denn heute im Krankenhaus gewesen sei, er wollte noch etwas Aufschub.

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och Elise starrte ihn nur an, kein Wort kam aus ihrem Mund. „Sie hat noch kein einziges Wort gesagt seit sie unten ist“, bemerkte seine Schwester. „Nicht einmal mit den Kindern hat sie gesprochen,“ ergänzte seine Mutter. „Elisabeth hat die beiden ins Bett gebracht, sie waren ganz verängstigt, weil Elise so seltsam ist. Vielleicht siehst du noch mal nach ihnen.“ Elise löste sich aus Wilhelms Umarmung, sah ihm in die Augen und flüsterte: „Weihnachten Wilhelm, Weihnachten kommen sie gesund nach Hause“. Mehr konnte sie nicht sagen, denn der Druck in ihrem Hals war so stark, dass jedes Wort schmerzte. „Oh Gott, wie soll ich es ihr nur sagen“, dachte Wilhelm. Er setzte sich, zog sie auf den Stuhl neben sich, nahm ihre Hände in seine und sagte mit zitternder Stimme: „Nein Elise, nein, unser Heinrich nicht, unser kleiner Heinrich lebt nicht mehr, er ist heute Abend gestorben.“ Dann versagte seine Stimme und Tränen liefen über sein Gesicht. Elise starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und schüttelte den Kopf, „Weihnachten“ flüsterte sie wieder und wieder, „Weihnachten kommen sie gesund nach Hause.“ Sie löste ihre Hände aus seinen, stand auf, ging zu ihrer Schwägerin, die vor Entsetzen wie gelähmt am Tisch saß, und sagte mit leiser, beschwörender Stimme: „Elisabeth, du musst mir Wolle geben, ich muss Heinrich einen warmen Schal stricken zu Weihnachten, damit er sich nicht wieder erkältet und nicht mehr husten muss. Und für Wilma muss ich auch stricken, wir müssen alle stricken, du auch und Oma auch. Und das Feuer dürfen wir nie ausgehen lassen, sie müssen es immer warm haben. Und warum weint ihr denn alle, hört auf zu weinen, Weihnachten kommen sie gesund nach Hause.“

Wilhelm ertrug es nicht mehr, er stand auf, ging zu ihr, griff sie weinend an beide Arme und schüttelte sie. „Heinrich ist tot, Elise, er ist tot, tot, tot.“ Jetzt schienen seine Worte ihr Bewusstsein erreicht zu haben, sie konnte sich nicht mehr vor diesem schrecklichen Wort schützen, es traf sie wie ein Pfeil ins Herz: Tot, Heinrich ist tot. Dann löste sich ein unheimlicher Schrei aus ihrem Mund, sie schrie immer wieder: „Nein, nein, nein, Heinrich, oh mein Gott nein,“ und sackte ohnmächtig zusammen. Wilhelm trug sie zum Sofa, Tränen liefen immer noch über sein Gesicht und auch die beiden Frauen weinten. Sein Vater stand mit einem tiefen Stöhnen auf und ging durch den Flur hinaus auf den Hof und zum Stall, um dort ungestört um seinen Enkel zu weinen.

Beim Hinausgehen hatte Opa Trebeis nicht gesehen, dass auf den Stufen der Treppe, die vom Hausflur nach oben führte, Konrad saß und angstvoll zur Küchentür starrte, hinter der er seine Mutter hatte schreien hören. Der kleine Junge hatte beide Ärmchen um seinen Körper geschlungen und weinte, er wusste nicht was los war, aber er hatte Angst, schreckliche Angst. Seine Mama war so fremd gewesen, sie hatte ihn gar nicht beachtet, als er sie nach der Eisenbahn gefragt hatte, es war so, als könnte sie ihn gar nicht sehen, kein Wort hatte sie gesagt, ob sie ihn vielleicht gar nicht mehr lieb hatte? Aber er war doch brav gewesen, warum hatte sie nur so schrecklich laut geweint? Elisabeth kam aus der Küche, sie hörte Konrad auf der Treppe weinen und ging zu ihm, nahm ihn auf den Arm und redete beruhigend auf ihn ein. Konrad sah, dass sie auch geweint hatte und deshalb konnte er schon gar nicht aufhören. Sie trug ihn wieder nach oben und legte ihn in sein Bett.

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ante Elisabeth,“ sagte er, „warum hat die Mama so laut geweint und nach Heinrich gerufen, ist sie denn böse auf mich? Sie will gar nicht mit mir sprechen.“ Elisabeth streichelte beruhigend seinen Kopf: „Nein, die Mama ist nicht böse auf dich, sie ist nur furchtbar traurig, weil die Engel Heinrich in den Himmel geholt haben und er nie mehr nach Hause kommt, darum hat die Mama geweint und nach ihm gerufen.“ „Damit er sie im Himmel hört?“, fragte Konrad schluchzend. „Ja, aber er hört sie auch so, sie muss gar nicht schreien, denn Engel können alles hören, was die Menschen, die sie lieb haben sagen oder denken.“ „Auch was sie denken, Tante Elisabeth?“ „Ja, auch was sie denken, Konrad.“ „Kann Heinrich mich auch hören?“ „Natürlich“, sagte Elisabeth, „du kannst ihm alles erzählen, nur sehen kannst du ihn nicht mehr, weil er jetzt bei den Engeln ist, aber er kann dich sehen und hören.“ (wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.11.2006