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Nein, das konnte nicht wahr sein, sie träumte das bloß. Bestimmt würde sie gleich aufwachen, die Kinder wären bei ihr und alles wäre in Ordnung. Schwester Gertrud bot der völlig abwesend wirkenden Elise ein Glas Wasser an, was diese auch trank. Doch machte sie sich Sorgen um die junge Frau. Erst hatte sie die Namen ihrer Kinder gerufen und furchtbar geschluchzt, sie hatte sie mit Gewalt von der Scheibe wegziehen müssen, nachdem natürlich, wie sie vorausgesehen hatte, im Krankenzimmer alle Kinder durch Heinrichs Weinen angesteckt worden waren und ebenfalls weinten.

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och jetzt war sie unnatürlich ruhig. Das war nicht gut. So konnte sie diese Frau nicht gehen lassen. Sie wusste aus der Krankenakte, dass die junge Frau noch zwei Kinder hatte. Deshalb hatte der Hausarzt auch die Einweisung von Heinrich und Wilma angeordnet, weil die Gefahr der Ansteckung für die Geschwister zu groß war.

Also sagte sie: „Gehen sie nach Hause, Frau Trebeis, ihre beiden anderen Kinder brauchen sie. Wir passen hier schon auf, dass es Heinrich und Wilma gut geht und wir tun alles, damit sie wieder gesund werden. Aber dafür brauchen sie viel Ruhe und sie können uns wirklich nicht helfen. Das müssen sie doch einsehen. Kümmern sie sich um ihre Kinder zu Hause. Achten sie darauf, dass sie sich nicht erkälten, damit sie nicht auch noch krank werden. Das ist jetzt ihre Aufgabe. Und wir werden uns alle Mühe geben, dass sie Weihnachten mit vier gesunden Kindern zu Hause feiern können.“ Elise starrte sie wortlos an und nickte nur mit dem Kopf, sprechen konnte sie nicht. Schwerfällig stand sie auf, nahm ihre Tasche von dem Stuhl, auf den Schwester Gertrud sie gestellt hatte, kramte das kleine Pferdchen und das gestrickte Püppchen heraus und drückte beides Schwester Gertrud wortlos in die Hand. „Ich werde den Kindern die Geschenke geben und ihnen sagen, wie lieb ihre Mama sie hat, und dass sie Weihnachten wieder zu Hause sein werden“, sagte Schwester Gertrud zu Elise und führte sie zur Tür. In Elises Kopf war immer noch diese dunkle Leere und der Kloß in ihrem Hals war so groß, dass es ihr nicht möglich war, zu sprechen. So nickte sie Schwester Gertrud nur traurig zu und ging aus dem Schwesternzimmer.

Sie nahm ihre Umwelt nicht wahr, als sie das Krankenhaus verließ. Auch hörte sie nicht, dass der Pförtner ihr fröhlich „Auf Wiedersehen junge Frau“ zurief. Wie eine Schlafwandlerin ging sie bis zum Bahnhof, sah auf der Anzeigentafel nach, wann der nächste Zug nach Hause fuhr, und setzte sich dann auf eine Bank im Wartesaal.

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ie musste zwei Stunden warten, dann endlich kam der Zug und sie stieg ein. Sie setzte sich auf den erstbesten Platz, der frei war und sah weder die anderen Reisenden, noch die Landschaft die draußen vorbeizog, und auch nicht den Schaffner, der nach ihrer Fahrkarte fragte. Erst als er sie vorsichtig an der Schulter berührte, blickte sie auf und zeigte ihm die Fahrkarte, die sie die ganze Zeit krampfhaft in ihrer zur Faust geballten Hand gehalten hatte. Als ihr Heimatbahnhof aufgerufen wurde, stand sie auf und verließ den Zug. Aber immer noch war diese Leere in ihrem Kopf, ein Schmerz in der Brust und der dicke Kloß in ihrem Hals.

Es war, als würde ihr Kopf ihren Körper nicht mehr steuern, als gingen ihre Beine ganz automatisch den Weg nach Hause. Es war schon dunkel, als sie zu Hause ankam, sie schlich sich leise ins Haus, ging die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer, zog die guten Kleider aus und die Arbeitskleidung an, um Wilhelm bei der Arbeit im Stall zu helfen. Dann fiel ihr Blick auf das Bett ihrer beiden Jungen. Sie konnte nicht anders, sie musste Heinrichs Kopfkissen nehmen, an ihr Gesicht drücken, um Spuren seines Geruches zu finden. Sie setzte sich auf sein Bett, nahm sein Kopfkissen in ihren Arm und drückte ihr Gesicht hinein, glaubte ihn zu riechen und zu spüren, dann legte sie sich so vorsichtig hin, als läge er neben ihr, und schlief erschöpft ein.

Als die Stallarbeit beendet war und alle in die Küche zur Oma und den Kindern kamen, um zu Abend zu essen, bekam es Wilhelm mit der Angst zu tun, weil Elise noch nicht da war. Er konnte nicht essen, sondern wollte sich lieber umziehen und Elise entgegen gehen. Es war doch schon dunkel, sie würde bestimmt Angst haben, er musste sofort los. Er rannte die Treppe nach oben, um sich im Schlafzimmer umzuziehen. So fand er Elise schlafend in Heinrichs Bett, sein Kopfkissen fest an sich gepresst. Obwohl er begierig war zu hören wie es Heinrich und Wilma ginge, traute er sich doch nicht Elise zu wecken, denn die Tatsache, dass sie heimlich in das Schlafzimmer gegangen war, ohne zuerst zu ihm zu kommen, bedeutete nichts Gutes. Die Angst machte sich breit in ihm, aber so lange er nichts genaues wusste, konnte er doch noch auf eine gute Nachricht hoffen. Er schlich sich wieder aus dem Zimmer und ging nach unten in die Küche um den anderen zu sagen, dass Elise schon da sei und schlafe.
In der Küche saßen schon alle um den großen Küchentisch, auf dem Brot, Wurst und Kochkäse, eine große Kanne Pfefferminztee für die Erwachsenen und Kakao für Konrad und Helma standen. Die beiden Kleinen waren dabei, ihre Brote zu kauen, und schauten ihren Papa gespannt an. Als er sagte, die Mama sei schon da, sie schlafe nur ein bisschen, wollten sie natürlich sofort zu ihr.

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och Wilhelm bestand darauf, dass sie erst ihre Brote essen und den Kakao trinken müssten, dann würde er mit ihnen zur Mama gehen und sie dürften sie wecken. Er setzte sich auch an den Tisch, ignorierte die erschrockenen Blicke seiner Mutter und Schwester und schenkte sich einen Becher Pfefferminztee ein. Seine Mutter sah seine Angst, griff nach seiner Hand und drückte sie, diese Geste zeigte ihm, dass auch sie wusste, dass Elises Verhalten besorgniserregend war. Gerade als er einen Schluck des heißen Tees getrunken hatte, klopfte es an der Küchentür. Neugierig, wer so spät noch kommen mochte, starrten alle zur Tür. Nachdem Opa Heinrich und Wilhelm wie aus einem Mund „herein“ gerufen hatten, trat Frau Hecke in die Küche.

Sie war eine rundliche, freundliche Frau um die Vierzig. Ihr gehörte der einzige Lebensmittelladen im Ort und sie betrieb auch die Poststation. Außer ihr hatte in Niederbach nur der Bürgermeister noch einen Telefonanschluß. „Na, Kathrin was führt dich noch so spät zu uns?“ fragte Opa, er durfte sie aufgrund seines Alters beim Vornamen nennen.

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athrin Hecke fiel die Antwort schwer, denn sie ahnte, dass es keine gute Nachricht war, die sie brachte, aber sie musste schließlich ihre Pflicht tun. „Wilhelm soll sofort das Krankenhaus in Marburg anrufen,“ sagte sie. Wilhelm stand wortlos auf, nahm seine Jacke, zog sie über seine Stallkleidung und sagte mit belegter Stimme: „Dann lass uns gehen“. Und zu seiner Mutter: „Nach dem Essen könnt ihr ja vielleicht mit den Kindern noch etwas spielen. Lasst sie noch nicht zu Elise. Sie soll noch etwas schlafen, stört sie nicht.“ Dann ging er mit Kathrin Hecke zur Tür hinaus.

Draußen fragte er: „Haben sie zu dir gesagt, um was es geht?“ „Nein, nur dass du dort anrufen sollst.“ Wilhelm spürte, wie die Angst langsam vom Bauchraum nach oben kroch und seine Brust und seinen Hals ausfüllte. Vielleicht hat ja Elise heute etwas im Krankenhaus liegen lassen und sie wollen nur fragen, ob wir es ganz dringend brauchen, oder vielleicht sollen wir für die beiden Kinder frische Wäsche bringen, dachte er. Doch er wusste, dass das Unsinn war und die Angst sagte ihm, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Schweigend ging er mit Kathrin Hecke die dunkle Dorfstraße entlang, die nur durch das Licht, das aus den Fenstern der anliegenden Häuser fiel, erhellt wurde. Als sie im Haus der Heckes angekommen waren, bat Kathrin ihn, doch im Flur vor der Tür zum Postraum zu warten. Der Postraum lag direkt gegenüber der Haustür, links davon befand sich die Küche und rechts der Lebensmittelladen. Die Tür zum Laden stand offen und Wilhelm sah, dass die 18-jährige Tochter Kathrins, Annemarie, so spät noch dabei war den Laden zu putzen. Kathrins Mann war im Krieg gefallen und ihre Eltern früh gestorben, so dass die beiden Frauen mit der vielen Arbeit ganz allein fertig werden mussten.

Noch ehe er Annemarie begrüßen konnte, öffnet sich schon das kleine Fenster in der Tür zum Postraum und Kathrin reichte ihm den Telefonhörer heraus, die Nummer hatte sie schon gewählt. Das Krankenhaus meldete sich und er sagte seinen Namen und dass man ihn um Rückruf gebeten hätte. Die Stimme am anderen Ende sagte: „Moment, ich verbinde sie mit der Kinderklinik.“ Wilhelm wagte kaum zu atmen, so angespannt war er und mit zitternder Hand presste er den Hörer schmerzhaft fest an sein Ohr.

Er hörte die Stimme einer Frau: „Spreche ich mit Herrn Wilhelm Trebeis, Vater des Kindes Heinrich Trebeis?“ „Ja, hier ist Wilhelm Trebeis, der Vater von Heinrich.“



(wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.11.2006