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Langsam, langsam, erst sagen sie mir mal ihren Namen und die Namen ihrer Kinder, ich melde sie dann an und dann gehen sie zur Kinderklinik, viertes Gebäude auf der linken Seite dieser Straße.“ Nachdem Elise ihm die Namen genannt hatte, meldete er sie telefonisch an und sie konnte endlich weitergehen. Nur noch wenige Minuten, dann würde sie ihre Lieblinge in die Arme schließen. Erstes Gebäude, zweites, drittes und endlich stand sie vor dem Backsteingebäude, über dessen breiter Eingangstür der Schriftzug „Kinderklinik“ zu lesen war. Elises Herz klopfte wie wild, als sie die wenigen Stufen bis zum Eingang empor ging. Gleich hinter der schweren Eingangstür befand sich auf der linken Seite eine Art Empfangsbüro, welches zum Gang hin mit einer großen Glasscheibe mit Sprechfenster abgeteilt war. Von dort rief eine junge Schwester schon Elises Namen und bat sie, doch noch einen Moment auf der Bank, die rechts vom Eingang stand, Platz zu nehmen. Die Oberschwester würde gleich kommen und sie zu ihren Kindern führen.

Kaum, dass Elise sich gesetzt hatte, kam schon eine ältere, sehr kräftige Schwester den Mittelgang entlang auf Elise zu, „Frau Trebeis“ sagte sie, „ich bin Oberschwester Gertrud und betreue ihre beiden Kinder, kommen sie doch bitte mit mir.“ Elise folgte der Schwester, die in ihrer weißen Schwesterntracht noch mächtiger wirkte, als sie es aufgrund ihrer Statur wahrscheinlich ohnehin war. „Frau Trebeis,“ wandte sich Schwester Gertrud zu Elise um, bis diese neben ihr ging, „bitte bedenken sie, dass ihre Kinder schwer krank sind und sich auf keinen Fall aufregen dürfen. Außerdem liegen noch drei andere Kinder auf diesem Isolationszimmer, die leider ebenfalls Keuchhusten haben. Und wenn eines der Kinder anfängt zu weinen, dauert es nicht lange und alle fünf weinen und regen sich auf. Was natürlich für den Heilungsprozess nicht förderlich ist. Ihre beiden Kleinen haben noch dazu eine doppelseitige Lungenentzündung. Das heißt, sie brauchen Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe, da ihre kleinen Körper all ihre Kräfte für die Heilung nötig haben.“

Elise verstand nicht, was diese Schwester ihr damit sagen wollte. „Ich weiß, dass sie Ruhe brauchen, aber ich bin ihre Mutter, sie werden Heimweh nach mir haben und sich sicher freuen, wenn sie mich sehen und ich sie in den Arm nehmen kann. Ich glaube nicht, dass mein Besuch ihnen schaden kann. Im Gegenteil, ich würde gern eine Nacht oder auch länger bei ihnen bleiben, ich könnte ihnen doch helfen, ihnen ihre Arbeit erleichtern. Und wenn meine Kinder kein Heimweh mehr haben, sich nicht verlassen fühlen, dann werden sie doch sicher auch schneller gesund.“ Elise schaute die Schwester fragend an, wartete hoffnungsvoll, dass diese ihr vorschlagen würde, wenigstens eine Nacht zu bleiben. Doch Schwester Gertrud schwieg und wandte ihren Blick ab, sie konnte dieser jungen Frau nicht länger in die Augen sehen. Wie sollte sie dieser armen Mutter nur klar machen, dass sie ihre Kinder zwar sehen, aber auf keinen Fall in den Arm nehmen durfte, ja nicht einmal das Zimmer durfte sie betreten. Das Leben dieser beiden Kinder hing nur noch an einem seidenen Faden und dieser Faden hieß Penicillin, ein Medikament, das vielleicht noch helfen könnte, aber leider hatten sie im gesamten Klinikum keines. Es fehlte eben an allen Ecken und Enden: Viel zu wenig Medikamente, da die meisten der großen Pharmafabriken zerbombt und noch nicht wieder aufgebaut waren. Viel zuwenig Ärzte, da viele der jungen im Krieg gefallen oder in Gefangenschaft waren. Und: Viel zu viele Patienten, vor allem Kriegsversehrte. Manchmal glaubte sie, all das Elend nicht mehr sehen zu können. Und jetzt sollte sie dieser jungen Mutter verwehren, ihre Kinder in den Arm zu nehmen. Aber sie hatte die Verantwortung für diese Station und wenn die Ansteckungsgefahr so groß war wie in diesem Fall, durfte sie den sehnlichsten Wunsch dieser Frau nicht erfüllen, auch wenn sie es so gerne gewollt hätte.
So, Frau Trebeis, jetzt können sie ihre Kinder sehen, bleiben sie bitte hier stehen,“ sagte sie und schob Elise vor eine große Glasscheibe, hinter der eine Gardine das Durchsehen verhinderte. Doch das wollte Elise nicht, sie folgte Schwester Gertrund zur Tür des Krankenzimmers, schob sich an ihr vorbei und drückte die Türklinke nach unten. Doch die Tür war verschlossen. Gertrud nahm sie energisch am Arm und sagte: „Seien sie doch vernünftig, ich kann und darf sie nicht in das Zimmer lassen, machen sie es mir doch nicht so schwer. Bitte gehen sie zurück zur Scheibe.“ Elises Herz klopfte wie wild, sie wusste nicht was sie tun sollte und ließ sich widerstrebend wieder zurück zur Scheibe schieben. Aber die Enttäuschung war so groß, dass ihr das Atmen schwer fiel, in ihrem Kopf entstand eine große Leere und sie zitterte am ganzen Körper. Schwester Gertrud klopfte an die Tür und eine junge Schwester, mit Mundschutz vor dem Gesicht, öffnete. Gertrud sagte ihr, sie solle doch die Gardine zurückziehen, aber im Zimmer bleiben, um die Kinder zu beruhigen, falls es Aufregung gäbe. Auch Gertruds Herz klopfte jetzt bis zum Hals. Sie litt innerlich mit der jungen Mutter und vor allem mit diesen beiden Kindern mit. Aber sie durfte sich das nicht anmerken lassen. Wie sollte sie sonst die kommende Situation unter Kontrolle halten? Sie hätte viel darum gegeben, jetzt nicht hier zu sein, nicht die grausame Schwester sein zu müssen, die Mutter und Kinder trennt.

E
lises Hände krampften sich um den Griff ihrer Tasche und als die Schwester die Gardine wegzog, suchten ihre Augen nach ihren beiden Kindern. Zuerst sah sie die kleine Wilma dicht vor der Scheibe in ihrem Bettchen liegen. Sie erschrak, als sie die geisterhafte Blässe, ja fast Durchsichtigkeit dieses lieben Gesichtchens bemerkte. Wilma hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Aber auch im Schlaf wurde der kleine Körper von Hustenstößen geschüttelt. Der Anblick tat so furchtbar weh. Elise musste den Blick abwenden. Dann erkannte sie in dem großen Bett, direkt neben dem der kleinen Wilma, ihren Heinrich. Er lag auf dem Rücken, hatte die Ärmchen nach oben über den Kopf gelegt und die Hände dort verschränkt. Seine Augen blickten zur Decke.

Dieser Anblick grub sich in Elises Gedächtnis ein, sie würde ihn nie mehr vergessen. Sie ließ ihre Tasche fallen, legte beide Hände an die Glasscheibe und starrte mit brennenden Augen zu ihm hin. Es war, als spüre Heinrich ihren Blick, denn seine Augen wandten sich zu ihr. Elise konnte nur flüstern: „Heinrich, Heinrich, ich hab dich so lieb, ich hab dich so lieb,“ dann stürzten auch schon die Tränen aus ihren Augen. Heinrich aber sah fassungslos zu dieser Scheibe hin, hinter der seine Mama stand. Warum kam sie nicht zu ihm, warum nahm sie ihn nicht in die Arme und mit nach Hause? Er konnte sehen, wie ihre Lippen sich bewegten, aber nicht verstehen, was sie sagte. Alles Heimweh, alle Einsamkeit und alle Sehnsucht der letzten drei Wochen stiegen in ihm hoch, er richtete sich auf, streckte seine Ärmchen aus und rief so laut er konnte: „Mama, Mama komm hierher, nimm mich mit, Mama bitte, bitte,“ dann ging sein Rufen in lautes Schluchzen über und während er immer noch seine Ärmchen ausstreckte, wurde er von einem gewaltigen Hustenanfall zurück auf das Kissen geworfen. Er bekam fast keine Luft mehr, aber er durfte doch seine Mama nicht aus den Augen verlieren, sonst würde sie vielleicht nicht mehr da sein. Verzweifelt versuchte er den Blick weiter auf die Scheibe zu richten, auch wenn der Husten ihn hin und her schüttelte. Er konnte sehen, dass seine Mama weinte und wusste, dass sie seinen Namen rief, aber sie kam nicht und er konnte nicht mehr rufen und nicht mehr weinen, er hatte keine Luft mehr, er hatte Angst, furchtbare Not und Angst, sie könnte wieder verschwinden. Und er sah, wie Schwester Gertrud seine Mutter von der Scheibe wegzog, sie wehrte sich, drehte den Kopf zu ihm und dann sah er sie nicht mehr. In diesem Moment gab der kleine Heinrich seinen Lebenswillen auf. Er bemerkte nicht, dass inzwischen auch die anderen Kinder im Zimmer weinten. Er hörte nicht, dass seine kleine Schwester nach ihm rief: „Heia, Heia,“ so nannte sie ihn, weil sie Heinrich noch nicht aussprechen konnte. Die junge Krankenschwester zog die Gardine wieder zu. Der kleine Junge tat ihr schrecklich Leid, doch sie konnte ihm nicht helfen und nicht ahnen, dass seine Seele gerade in einem unvorstellbaren Meer von Traurigkeit ertrank und sein wehes Herz vier Stunden später aufhören würde zu schlagen. Inzwischen weinte auch die kleine Wilma und rief ebenfalls nach ihrer Mama. Sie war durch Heinrichs Rufen wach geworden und hatte Elises Gesicht gerade noch hinter der Scheibe gesehen, bevor Schwester Gertrud diese wegzog.

Sehen Sie, gute Frau, jetzt haben sie die Kinder nur aufgeregt“, schimpfte Schwester Gertrud und hob die Tasche auf, die Elise hatte fallen lassen, als sie ihre Kinder sah. Dann schob sie die verzweifelte Mutter den Gang entlang in das Schwesternzimmer. Elise lies alles mit sich geschehen. Sie konnte nicht mehr denken, es war zu grausam, was eben passiert war. Ihr Verstand weigerte sich zu glauben, dass sie wirklich nicht zu ihren Kindern konnte, dass Heinrich nach ihr gerufen und geweint hatte und sie nicht zu ihm durfte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 04.11.2006