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Für die Strümpfe der Erwachsenen war Oma zuständig, ebenso für das Spinnen der Wolle, die sie ihren eigenen Schafen verdankten. Elise machte die Arbeit im Stall und half bei der Feldarbeit. Sie war abends einfach zu müde, um noch zu handarbeiten, umso dankbarer war sie Elisabeth für das kleine Püppchen. Sie freute sich schon auf die strahlenden Augen der Kinder, wenn sie ihnen die Geschenke geben würde. Und sah das Wiedersehen in Gedanken vor sich, sah wie die beiden sich freuten, endlich ihre Mama wiederzusehen. Vielleicht dürfte sie ja eine Nacht bei ihren Kindern bleiben und sie spüren lassen, dass ihre Mama sie nicht verlassen hat, sondern immer für sie da ist und sie sehr, sehr liebt.

Während Elise so ihren Gedanken nachhing und sich dabei ankleidete, öffnete sich die Schlafzimmertür und der kleine Konrad kam herein. Er hatte in der Küche gehört, wie Oma und Tante Elisabeth davon redeten, dass die Mama Heinrich und Wilma besuchen wollte und mit der Eisenbahn fahren würde. Darum hatte er ganz schnell seinen Teller leer gegessen, denn er wollte unbedingt mitfahren. Aber als er sah, dass seine Mama schon das gute Sonntagskleid anhatte und eben den Mantel anzog, ahnte er, dass er wohl nicht mitfahren würde. Aber versuchen musste er es. Also lief er schnell zu ihr, klammerte sich an ihre Beine und fing schon mal vorsichtshalber an zu weinen. Im Allgemeinen hatte er gute Erfahrungen mit dieser Taktik gemacht. Elise nahm ihn liebevoll auf den Arm und redete beruhigend auf ihn ein, erklärte ihm, warum er nicht mit ihr fahren konnte. Dass die Geschwister zu krank seien und er sich nicht anstecken dürfe, weil sie ihn doch hier zu Hause brauche, wo er ihr schon so gut bei der Arbeit helfen würde, dass sie unmöglich auf ihn verzichten könne. Die Bestätigung seiner Wichtigkeit für Mama und den Hof besänftigte Konrad etwas und er erklärte sich bereit, während Mamas Abwesenheit gut auf die kleine Helma aufzupassen und den Erwachsenen zu helfen, so gut er könne. Elise ging zu Helmas Kinderbett, das in einer Reihe neben dem Kanonenofen, Wilmas Bettchen und dem großen Bett in welchem Konrad und Heinrich zusammen schliefen, an der Innenwand stand. Die Jungen spielten vor dem Einschlafen oft Eisenbahn, weil die aneinandergereihten Betten an der Wand tatsächlich einem Zug mit drei Wagen ähnelten. Gegenüber, an der Außenwand mit zwei Fenstern zum Ellerhaus und dem Bach hin, stand das Ehebett mit den Nachtschränkchen und die Frisierkommode. Die linke Stirnwand wurde fast vollständig vom großen Kleiderschrank eingenommen. Rechts, an der Außenwand zum Hof hin, befand sich noch ein Fenster, aus dem Elise jeden morgen mit großem Schwung die Nachttöpfe ihrer Lieben auf den großen Misthaufen ausleerte, der nur wenige Meter vom Haus entfernt stand. Obwohl das Schlafzimmer nicht gerade klein war und mit den drei Fenstern auch schön hell, war es mit Kleiderschrank, Frisierkommode, Wäschetruhe, fünf Betten, dem Kanonenofen und Holz- und Kohlekorb, doch ziemlich eng. Wenn Elise die Windeln der Zwillinge wechselte, musste sie dies auf einer Decke auf dem Ehebett tun. Für eine Wickelkommode war kein Platz mehr. Sie besaß auch keine. Auf der Frisierkommode stand immer ein Krug mit Wasser und eine Waschschüssel. Sie nahm Helma aus ihrem Bettchen, machte sie sauber, zog sie an und nahm das noch schlaftrunkene Mädchen auf den Arm um sie mit nach unten in die Küche zu nehmen und dort in den Laufstall zu setzen, der mitten in der großen Küche stand. Der Laufstall bestand aus einem 1m x 1m großen festen Polster, mit Gitterstäben rundherum, etwa 60cm hoch. Eine sehr praktische Erfindung. So konnten die Kleinen immer in der Küche dabei sein, ohne dass man Angst haben musste, dass sie sich am Herd oder sonst wo verletzen oder etwas kaputt machen konnten. Im Laufstall lagen Bällchen aus Stoff, eine Rassel und eine Stoffpuppe, doch den größten Spaß machte es Helma, sich immer wieder am Gitter hochzuziehen und einige Schritte im Laufstall zu gehen, bis sie wieder umfiel. Wilma konnte schon besser gehen und stehen, sie war überhaupt viel aufgeweckter als Helma, aber dadurch auch anstrengender. Doch jetzt, wo sie in der Klinik war, fehlte ihr munteres Stimmchen in der Küche, denn Helma sprach noch nicht, sie war damit zufrieden die Erwachsenen zu beobachten. Elise bat Konrad ihre Tasche zu tragen, nahm die schmutzige Windel in die freie Hand und verließ mit Helma auf dem Arm und Konrad neben sich, das Schlafzimmer. Im oberen Flur, musste sie ihn noch einmal ermahnen, vorsichtig zu gehen, denn die Treppe war sehr steil. „Keine Angst Mama, ich kann das“, sagte er und umklammerte mit dem freien Händchen das Treppengeländer. Wie ernst und vernünftig er doch schon ist, dachte Elise. Als sie in die Küche kamen, war Oma gerade dabei, Brote für Elise zu schmieren und Apfelsaft in eine flache Blechflasche für unterwegs zu füllen. Dann kamen auch Wilhelm und Opa Heinrich herein und alle drückten Elise ganz fest und baten sie, den beiden Kindern auch ja zu sagen, wie sehr sie zu Hause vermisst würden. Und dass sie ganz schnell wieder gesund werden sollten, um nach Hause zu kommen. Elise versprach, alles auszurichten, nahm noch einmal die kleine Helma aus dem Laufstall, um sie zu küssen bis sie lachte und verabschiedete sich von Opa, Oma und Elisabeth.

Wilhelm und Konrad begleiteten sie durch den Obstgarten bis zur Straße. Die Angst um ihre beiden Kinder lag so schwer auf Elise und Wilhelm, dass sie kaum miteinander reden konnten. Nur Konrad plapperte drauflos und wollte alles über die Eisenbahn wissen, mit der seine Mama bald fahren würde. Vor der Pforte, die durch eine Hecke zur Straße führte, nahmen sie schweren Herzens Abschied voneinander, Hoffnung und Angst vor dem, was sie in einigen Stunden wissen würde, machte Elise stumm. Und in Wilhelms Augen sah sie die gleiche Angst und verzweifelte Hoffnung, die sie selbst empfand. Noch einmal umarmte sie ihren Mann, drückte den kleinen Konrad an sich und ermahnte ihn in ihrer Abwesenheit brav zu sein, dann ging sie entschlossen durch die kleine Gartenpforte und war nach wenigen Schritten schon auf der Straße nach Raumrode. Zweimal musste sie sich noch umdrehen und winken, weil Konrad rief und ihr zusammen mit Wilhelm nachwinkte. Dann sah sie, wie ihr Mann ihn sich auf die Schultern setzte und die beiden hinter den Obstbäumen verschwanden.

Als sie die letzten Häuser des Dorfes hinter sich hatte und Gott sei Dank niemandem begegnet war, denn sie konnte die mitfühlenden Fragen der Leute nach ihren Kindern nicht mehr ertragen, beschleunigte sie ihre Schritte. Sie hatte sich vorgenommen, während des ganzen Weges zum Bahnhof das „Vaterunser“ zu beten. Das würde sie beschäftigen und die angstvollen Gedanken zurückhalten. Denn sonst musste sie womöglich den ganzen Weg weinen und was sollten Heinrich und Wilma denken, wenn sie so verheult bei ihnen ankäme? Sie wollte um Gottes Hilfe bei der Gesundung ihrer Kinder beten: „Vater unser der Du bist im Himmel ...“ jedes Wort ein Schritt. Sie kam in eine Art Trance und war erstaunt, als sie plötzlich vor dem imposanten Bahnhofsgebäude in Raumrode stand. Es war ein großer Sandsteinbau, dessen Steine von dem Qualm der Lokomotiven schwarz geworden waren. Die große Uhr über der zweiflügeligen, schweren Eingangstür zeigte Elise, dass sie noch über eine Viertelstunde Zeit hatte bis der Zug nach Marburg abfuhr, obwohl es ihr vorkam, als sei sie eben erst am Garten losgegangen. Sie ging zum Schalter, kaufte sich eine Fahrkarte und setzte sich dann auf eine Bank im Wartesaal. Die anderen Reisenden nahm sie kaum wahr, denn sie war in Gedanken bei dem Wiedersehen mit ihren Kindern. Sie überlegte was sie den beiden alles erzählen wollte und träumte davon, vielleicht eine Nacht bei ihnen bleiben zu dürfen. So verging die Zeit, bis der Zug kam. Die Menschen drängten sich auf dem Bahnsteig und Elise wurde immer wieder nach hinten geschoben. Als die eiligen Drängler endlich eingestiegen waren, konnte auch sie die Stufen ins Zuginnere hinaufsteigen. Im ersten Wagen war kein Platz mehr frei, aber im zweiten Wagen bekam sie sogar noch einen Fensterplatz. Rechts und links vom Mittelgang des Wagens standen die dunkel gestrichenen Holzlattenbänke, die dringend einen neuen Anstrich gebraucht hätten. Es standen sich immer zwei der Bänke gegenüber, sodass eine Art Abteil entstand. Elise genoss den Blick aus dem Fenster in die vorbeiziehende Landschaft, das lenkte sie ein wenig ab. Nach über einer Stunde kamen sie in Marburg an. Jetzt hatte sie wieder einen Fußweg von mindestens einer dreiviertel Stunde bis zur Universitätsklinik vor sich. Sie konnte jetzt nicht mehr beten, die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Heinrich und Wilma füllte sie derartig aus, dass sie ohnehin glaubte, sie schwebe, jedenfalls spürte sie ihre Füße kaum.

Am Eingang zum Klinikgelände standen zwei riesige Kastanienbäume, die im Sommer bestimmt wunderschön aussahen, und unter ihnen das Pförtnerhäuschen. Der Pförtner war ein älterer Mann mit nur einem Arm, wahrscheinlich eine Kriegsverletzung, dachte Elise. „Nicht so schnell junge Frau“ rief er Elise zu, „wo wollen sie denn hin?“ „Zu meinen Kindern“ sagte Elise atemlos. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 03.11.2006