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Auf zwei Rädern tief im »Woid«
Mit dem Motorrad unterwegs, wo Bayern am urwüchsigsten ist: im Nationalpark Bayerischer Wald
Manchmal, ja manchmal hätte man doch lieber in früheren Zeiten gelebt. In der der Kelten zum Beispiel, ein halbes Jahrtausend vor Christi Geburt etwa.
Paul Freund kennt sich da bestens aus. Der kugelrund-knorrige Bayerwald-Bauer, 65 Jahre alt, ist in der Gemeinde Ringelai im Landkreis Freyung-Grafenau, dem östlichsten Zipfel Bayerns, für die Vorzeit zuständig. »Kelten-Paul« sorgt dafür, dass das Leben der frühen Bewohner des Bayerischen Waldes so lebendig überkommt, als wär's gestern gewesen. Gabreta hieß die Gegend des heutigen bayerisch-böhmischen Grenzgebirges in der Antike. Gabreta heißt auch das Keltendorf, das in Ringelai mit Häusern, Ställen Vieh und allerlei Aktionen zu neuem Leben erwacht ist.
Und mit den Geschichten von Paul. Eine davon geht so: »Die Kelten waren so tief verwurzelt im Glauben, dass Leben und Tod eine ewige Wiederkehr sind wie die Sonne im Osten auf- und im Westen untergeht, dass sie sogar ihre Gläubiger damit vertrösten konnten, nach dem Motto: Zahl' ich meine Schulden eben im nächsten Leben«, berichtet er in einer Sprache, die Nordlichter vielleicht für Keltisch halten könnten - aber es ist nur tiefstes Waldler-Bayerisch. Wie auch immer, seine Worte regen die Phantasie an: »Erzähl' das mal deiner Bank«, ulken die Mitglieder einer kleinen Motorrad-Gruppe beim Abschied.
Aus Deutschlands mittlerem Westen sind sie die gut 600 Kilometer heraufgefahren, um sich von einem Einheimischen auf geschwungenen Straßen ein wenig davon zeigen zu lassen, was das größte zusammenhängende Waldgebiet Europas (!) mit seinen unberührten Nationalparks auf deutscher wie tschechischer Seite (Sumava) gerade den Entdeckern auf zwei Rädern zu bieten hat. Alfred Müller (41), gebürtiger Passauer, hat sich das Revier seit Jugend erfahren. Und wenn er auch die Alpen kreuz und quer, Kroatien, Korsika und Sardinien für Motorradler entdeckt und Reiseführer darüber geschrieben hat (www.bike-book.com), so gilt für ihn doch eines: »Im Woid, do bin i daham.« Und lässt seine Gäste gleich darauf in Ehrfurcht erstarren: »München - Prag, das schaff' ich in weniger als drei Stunden«, wettet er um einen Kasten Bier. Sicher, Motorrad fahren kann der Mann. Aber knapp drei Stunden für knapp 400 Kilometer mit strengen Tempolimits? Minuten später sind alle klüger: München und Prag sind Dörfer der Bayerwald-Gemeinde Hutthurm - und liegen kaum mehr als einen Kilometer auseinander. Fahrzeit: eine Minute. Prost, Freddy!
Den Luftkurort Markt Schönberg mit seiner typischen, gemütlich zu einem Platz geöffneten Ortsmitte, hat er als Ausgangspunkt der Touren ausgewählt. Mit gutem Grund: Hier ist man »mittendrin«. Nach Nordosten geht's im großen Bogen auf geschwungenen Straßen durch tiefen Tann und würzige Luft hinauf in Richtung Rachel und Lusen, ins Herz des ersten deutschen Nationalparks. Im urigen, fast 200 Jahre alten Gasthaus des Freilichtmuseums Finsterau schmeckt mittags die kräftige Brotzeit. Und ganz oben, über dem Künstlerort Waldhäuser, öffnet später der Blick über die unendlich bis zum Horizont reichenden Wälder mit ihrem bläulichem Schimmer das Herz weit, gaaanz weit.
Fast möchte man bleiben - wäre da nicht noch soviel mehr zu entdecken, was des Motorradlers Lust weckt. In südöstlicher Richtung, zur Dreiflüssestadt Passau hin, ein ganz anderes Bild. Schon bald öffnet sich von Schönberg aus das Land. Liebliche Hügel und Wiesen bestimmen die Landschaft, wie von Malerhand hingekleckst hier und dort ein kleiner Ort, aus dem stets der Kirchturm schon von weither grüßt.
Und dann Passau, der geschichtsträchtige Bischofssitz mit der Welt größter Domorgel. Zumindest einen halben Tag sollte reservieren, wer Altstadt und Gotteshaus erkunden will. Wer aber lieber (mehr, mehr, mehr!) Motorrad fährt, steuert zumindest die Veste Oberhaus an: Einen besseren Blick auf die alte Stadt, an deren Spitze Donau, Inn und Ilz zusammenfließen und alsdann einen mächtigen Strom in Richtung Schwarzmeer bilden, den gibt's nimmermehr. Ingo Steinsdörfer

Artikel vom 21.10.2006