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Elise
Es war ein kalter Novembermorgen 1946 in Nordhessen. Der Herbst, der die Wälder der hessischen Berge bunt gefärbt hatte, schien sich schon verabschieden zu wollen. In dem Flusstal der Schwalm, zwischen Kellerwaldgebirge und Altenburg, lag dichter Nebel. Die Obstbäume an der Straße von Oberbach nach Niederbach waren teilweise schon kahl. Jakob, der Kutscher des Milchwagens, der mit seinem Pferdefuhrwerk in Richtung Niederbach unterwegs war, konnte die Umrisse der ersten Häuser des kleinen Dörfchens nur schemenhaft erkennen. Er hatte die Ohrenklappen seiner Schildmütze nach unten gezogen und den Kragen der warmen Joppe hochgeschlagen. Das Rheuma plagte ihn heute wieder, aber ansonsten war er mit seinen 63 Jahren noch erstaunlich kräftig und gesund. Aber heute zwackte es ihn überall und so hockte er mit griesgrämigem Gesicht auf dem Kutschbock des Kastenwagens, auf dem schon die vollen Milchkannen von den Bauernhöfen aus Oberbach standen. Er lenkte die beiden starken Zugpferde mit „Ho-ho“- Rufen langsam und vorsichtig nach Niederbach hinein, denn die Dorfstraße, die sich wie ein liegendes S durch den Ort schlängelte, bestand zum großen Teil aus Kopfsteinpflaster, auf dem die Pferde mit ihren eisenbeschlagenen Hufen leicht ausrutschen konnten. Mittelpunkt Niederbachs war die aus dem 15. Jahrhundert stammende Wehrkirche, ein imponierender Backsteinbau, auf dessen Glockenturm sich ein eiserner Wetterhahn nach dem Wind drehte. Rund um die erhöht stehende Kirche drängten sich dicht an dicht die typisch hessischen Fachwerkhäuser. Entlang der Dorfstraße standen zu beiden Seiten Bauernhöfe, Handwerksbetriebe, das Gasthaus und das einzige Lebensmittelgeschäft, in dessen Nebenraum sich die Poststelle befand. Vier Brücken gab es in Niederbach, die das Flüsschen Bach, welches vom Kellerwald kommend in die Schwalm am Fuße der Altenburg floss, überquerten. Jakobs Aufgabe war es, die vollen Milchkannen einzusammeln, die von den Bauern an bestimmten Plätzen des Dorfes auf stabile Holzpodeste, Milchböcke genannt, gestellt wurden.

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iese fuhr er mit seinem Kastenwagen dann zur etwa 12 km entfernten Molkerei. Vier Milchböcke musste er in Niederbach anfahren. Er wusste genau, wie viele Milchkannen jeweils auf einem Bock zu stehen hatten, wenn alle Bauern ihre Kannen gebracht hatten. Wenn nicht alle da waren, wartete er, bis der sich verspätende Bauer seine schweren Kannen dann ächzend und prustend anschleppte, oder mit einem Handwagen brachte. War er gutgelaunt, machte er ein Witzchen über den offensichtlichen Langschläfer, half ihm aber, die Kannen auf den Wagen zu heben. War er schlecht gelaunt, wartete er nicht, sondern fuhr zur nächsten Sammelstelle. So beeilten sich alle Bauern, schnell mit dem Melken fertig zu werden, damit sie die Milchkannen rechtzeitig abliefern konnten, ihnen noch ein paar Minuten Zeit für ein Schwätzchen und den Austausch von Neuigkeiten blieben.

Auf dem Hof der Familie Trebeis verließ zur gleichen Zeit, als der Kutscher vorsichtig seine Pferde nach Niederbach hinein lenkte, die junge Bäuerin Elise eilig den Stall. Sie hatte zusammen mit ihrem Mann Wilhelm die Kühe gemolken und die Milch in die Kannen gefüllt. Wilhelm würde sie dann wegbringen. Die Wanduhr schlug gerade sieben mal, als sie in die warme, große Wohnküche des Hauses kam. Ihre Schwiegermutter hatte schon den Frühstückstisch gedeckt und war gerade dabei, auf dem großen gusseisernen Herd Hafersuppe für die Kinder zu kochen. Konrad, Elises zweiter Sohn saß auf seinem Platz am großen Küchentisch und strahlte als er seine Mutter sah. Er war vier Jahre alt und hatte die gleichen dunkelbraunen Augen wie Elise. Seine kleine Schwester Helma schlief noch. Elise setzte sich neben ihn auf das große Küchensofa, gab ihm einen Kuss auf die Stirn, goss sich eine Tasse Ersatz-Kaffee ein und hörte unkonzentriert seinem eifrigen Geplapper zu. Sie hatte es eilig und konnte nicht warten, bis die ganze Familie am Frühstückstisch versammelt war: Ihr Mann Wilhelm, ihre Schwägerin Elisabeth, Schwiegervater und Schwiegermutter und der Knecht Adolf. Vor drei Wochen noch hatten noch alle ihre vier Kinder mit am Tisch gesessen. Doch zwei von ihnen lagen jetzt in der Kinderklinik in Marburg, über 60 km entfernt von ihr, und die wollte sie heute besuchen. Die kleine Helma würde sie erst wecken, wenn sie sich oben im Schlafzimmer umgezogen hatte und sie dann mit runter bringen. Hastig schmierte sie sich eine Scheibe Brot mit Butter und selbstgemachter Marmelade. Dabei zitterten ihre Hände und sie musste sich zwingen, das Brot auch zu essen. Als sie aufstehen wollte, sagte ihre Schwiegermutter: „Nimm noch ein Brot Elise, dein Zug fährt doch erst in drei Stunden. Und bis Raumrode zum Bahnhof brauchst du höchstens eine Stunde und fünfzehn Minuten.“ Sie brachte Konrad seine Hafersuppe und betrachtete dabei ihre Schwiegertochter sorgenvoll. Man sah Elise an, wie sehr sie unter der Trennung von ihren beiden kranken Kindern litt. Sie hatte tiefe Ringe unter den sonst so strahlenden braunen Augen und das blasse Gesicht war noch schmaler geworden, als es ohnehin schon war. Elise war eine sehr schöne junge Frau, sie erinnerte ihre Schwiegermutter immer ein wenig an Schneewittchen, mit ihrem dunklen, leicht gelockten Haar, der schlanken Figur, den braunen Augen, dem vollen Mund und der auffallend hellen Haut.

Elise sah ihre Schwiegermutter an und schüttelte den Kopf, sie hätte keinen Bissen mehr runtergebracht. In ihr war alles in Aufruhr, die Gewissheit heute ihre Kinder zu sehen und die Hoffnung, dass es ihnen vielleicht schon besser ginge, oder dass man ihr erlauben würde, bei ihnen zu bleiben. Die Angst, dass weder das erste zuträfe, noch das zweite möglich wäre, ließ ihr Herz rasen und die Hände zittern. Der sechs Jahre alte Heinrich, war schon seit über zwei Wochen in der Klinik. Und Wilma, Helmas Zwillingsschwester, seit einer Woche. Mochte ihr der Hausarzt auch von einem Klinikbesuch abgeraten haben, sie würde sich von niemandem aufhalten lassen. Ihre Sehnsucht war so groß und sie spürte, dass die beiden sie dringend brauchten. „Die Klinikärzte haben Elternbesuche nicht gern, sie regen die Kinder nur auf und das verzögert die Heilung,“ hatte ihr Hausarzt gesagt. Und Elise hatte sich in den letzten zwei Wochen gegen ihr Gefühl an diese Anweisung gehalten. Doch jetzt konnte sie nicht mehr. Sie musste die beiden sehen und in ihre Arme schließen, spüren, dass sie lebten und wieder gesund werden würden. Und vor allem musste sie ihnen doch zeigen, dass ihre Mama sie liebte, und nur davon träumte, sie endlich wieder nach Hause holen zu können.

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einrich war mit seinen sechs Jahren das älteste ihrer vier Kinder und sie liebte ihn abgöttisch. Dieser wunderbare Junge hatte sie getröstet wenn sie traurig war, und seine Liebe hatte ihr das Leben erträglich gemacht, als ihr Mann im Krieg war und sie mit Schwiegereltern und Schwägerin allein den Hof bewirtschaftete. Wie würde es ihm gehen? Er hatte doch bestimmt ganz schreckliches Heimweh. Den ganzen Sommer über war er häufig krank gewesen und immer blasser und stiller geworden. Dann hatte er hohes Fieber bekommen und den hochansteckenden Keuchhusten. So mussten sie ihn vor 16 Tagen mit dem Krankenwagen sofort in die Kinder-Klinik nach Marburg bringen lassen, damit seine drei Geschwister sich nicht ansteckten. Doch für die anderthalb-jährige Wilma war es schon zu spät, sie bekam wenige Tage danach ebenfalls hohes Fieber und Husten und wurde auch in die Klinik gebracht. Elise war es schrecklich schwer gefallen, die beiden der Obhut Fremder zu überlassen. Aber ihr Hausarzt war verpflichtet, bei hochansteckenden Krankheiten die Patienten in ein Krankenhaus bringen zu lassen, damit sie isoliert von den gesunden Menschen in ihrem Umfeld behandelt und geheilt werden konnten.
Gott sei Dank waren ihre beiden anderen Kinder, der vierjährige Konrad und Helma, die Zwillingsschwester von Wilma, gesund und munter. Schwiegermutter und Schwägerin würden sich um die beiden kümmern, wenn sie weg war. Konrad war ein sehr stiller Junge, der sich gut allein beschäftigen konnte. Am liebsten spielte er unter den Nussbüschen oberhalb der Ställe, dort versuchte er immer wieder aus kleinen Holzspänen, Steinen und Erde eine perfekte Kopie des Hofes, mit Ställen und Scheune, nachzubauen.

So, jetzt musste sie sich aber schnell waschen und umziehen, denn sie hatte noch einen Fußmarsch von gut fünf Kilometern bis zum Bahnhof in Raumrode vor sich. Und ihr Mann konnte sie leider nicht begleiten, weil er heute die geernteten Rüben mit dem Pferdefuhrwerk zur Zuckerfabrik bringen musste. Wenn sie doch nur ihr Fahrrad noch hätte, doch das hatte der polnische Kriegsgefangene, der ihnen 1943 als Erntehelfer zugeteilt worden war, in einem Wutanfall demoliert, so würde sie also zu Fuß gehen. Dieser Mann war den Frauen und dem Großvater keine Hilfe gewesen, im Gegenteil, sie hatten alle Angst vor seinem Jähzorn gehabt. Ganz im Gegensatz zu Louis, dem französischen Kriegsgefangenen, der sehr nett und ausgesprochen hilfsbereit, fast wie ein Sohn oder Bruder für die Frauen gewesen war. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 31.10.2006