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Sie fand ihn unter dem Tisch, die Beine angezogen und den Kopf auf den Knien, das Gesicht von den Ärmchen verdeckt. Seine Schultern zuckten, auch er weinte. Elisabeth tat er so Leid, er war noch so klein und musste schon so viel Angst, Trauer und Verzweiflung in diesem Haus ertragen. Sie beugte sich zu ihm hinunter, zog ihn unter dem Tisch hervor und nahm ihn fest in ihre Arme. „Ich will zur Mama,“ weinte er und Elisabeth streichelte ihn und versuchte ihn zu beruhigen, aber es gelang ihr nicht. Da öffnete sich die Küchentür und Wilhelm kam herein. „Papa, Papa,“ schluchzte Konrad und streckte seine Arme nach ihm aus. Elisabeth reichte ihn seinem Vater und auf Wilhelms Arm wurde sein Schluchzen weniger, bis er ganz ruhig war. „Konrad, was hältst du davon, wenn wir jetzt gemeinsam zu Tante Luise und Opa Konrad gehen, du kannst einige Tage bei ihnen bleiben und mit Christel und Hans spielen,“ sagte Wilhelm. Konrad schaute seinen Vater unsicher an, er wusste nicht recht, was er sagen sollte.

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inerseits schien es ihm verlockend, Opa Konrad zu besuchen und mit Christel und Hans zusammen zu sein, aber andererseits hatte er Angst davor, nachts nicht bei Mama und Papa zu schlafen. „Jetzt wird erst mal zu Mittag gegessen,“ mischte sich Elisabeth ein, „dann packen wir ein paar Sachen ein und dann kannst du mit Papa losmarschieren. Was glaubst du, wie Opa Konrad staunen wird, wenn ihr plötzlich vor ihm steht, und bestimmt darfst du ihm dann helfen, die Hasen zu füttern, und sie auch streicheln.“ Hm, die Aussicht gefiel Konrad gut, ja, er würde mit Papa gehen.

Der Arzt wird in etwa einer Stunde hier sein, er macht seine Sprechstunde zu Ende, dann kommt er,“ sagte Wilhelm zu Elisabeth. Sie merkte ihm an, dass er Angst hatte, nach oben zu gehen, deshalb schob sie ihn zur Küchentür hinaus und zur Treppe, „Geh hoch Wilhelm, sag Elise, dass der Arzt bald kommt, und vor allem sag ihr, dass Helma nicht fort muss, dass du es niemals zulassen wirst, wir alle es nicht zulassen werden.

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lise ist ganz erstaunlich gefasst, sie hat wahrscheinlich nur einen Gedanken: Sie muss um Helma kämpfen, sie beschützen. Und sie wird beruhigt sein, wenn sie weiß, dass du Konrad zu ihrem Vater bringst, so dass er sich nicht auch noch anstecken kann. Er darf auf keinen Fall noch mal nach oben gehen. Ich hole nachher seine Sachen runter und packe sie ein.“ „Danke Elisabeth,“ sagte Wilhelm und ging nach oben, wo Elise sich inzwischen angekleidet hatte und jetzt mit Oma am Bettrand saß und Helma beobachtete.

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eine Mutter hatte aus dem Porzellankrug Wasser in die Waschschüssel gegossen und einige von Wilhelms großen Taschentüchern nass gemacht, damit machten sie Helma Wadenwickel, ein altes Hausrezept gegen Fieber, und kühlten ihr die Stirn. Die beiden Frauen waren so beschäftigt, dass sie Wilhelm nicht herein kommen hörten. Erst als er sagte „Der Arzt kommt in etwa einer Stunde,“ hoben beide die Köpfe und sahen ihn an. In Elise stieg sofort wieder Panik auf. „Er wird sie nicht wegholen Wilhelm, ich lass es nicht zu,“ sagte sie und breitete die Arme wie schützend über ihr Kind. „Nein Elise, er wird sie nicht wegholen,“ sagte Wilhelm, „auch ich lasse es nicht zu. Aber ich werde nachher Konrad zu deinem Vater bringen, er soll ein paar Tage dort bleiben, wir dürfen ihn der Ansteckungsgefahr nicht aussetzen.“ Wenn er es nicht schon in sich hat, dachte er angstvoll und Elise schien das Gleiche zu denken, denn sie sagte: „Wenn der Arzt kommt, soll er ihn erst untersuchen, bevor ihr geht.“

Als seine Mutter gegangen war, nahm er Elise fest in seine Arme, sah ihr in die Augen und sagte beschwörend: „Helma wird gesund, Elise, wir haben es früh genug gemerkt, ihr Körper ist noch nicht geschwächt, sie wird es schaffen. Und ich habe Vertrauen zu Dr. Tonne, wenn wir Glück haben, bekommt er ja bald dieses Penicillin von den Amerikanern und kann damit Helma heilen.“ Elise nickte, nahm seine Hände und sagte: „Lass uns beten Wilhelm, lass uns beten. Vielleicht hat Gott ja diesmal Erbarmen mit uns, er hat uns doch schon genug genommen.“ Wilhelm war froh, wieder so mit Elise reden zu können, sie war endlich wieder in das Leben zurückgekommen. Die Angst um Helma hatte ihre letzten Kräfte mobilisiert und sie aus ihrer Wahnwelt, in die sie aus Verzweiflung geflüchtet war, zurückgeholt. So betete er gemeinsam mit ihr um das Leben ihrer Tochter.

Eine Stunde später hörten sie das Auto von Dr. Tonne auf den Hof fahren. Wilhelm ging ihm an der Haustür entgegen und Konrad rannte ihm nach, denn er wollte unbedingt das Auto des Doktors sehen. Er fand Autos ganz toll, wenn auch nicht so toll wie die großen Panzer, die manchmal durch das Dorf fuhren. Als Heinrich noch nicht im Himmel und noch gesund gewesen war, hatten sie sich heimlich in den Garten geschlichen, wenn sie die Panzer hörten und von der kleinen Anhöhe des Gartens hatten sie sogar die Soldaten auf den Panzern genau sehen können. Sie hatten „Schoklääd, Schoklääd,“ geschrien und wenn die Soldaten sie im Garten sahen, hatten sie ihnen manchmal in eckige Blechdosen verpackte Schokolade zugeworfen. Und die hatten sie dann heimlich gegessen. Wunderbar hatte die geschmeckt. Aber Papa und Mama durften davon nichts wissen, sie hatten ihnen nämlich streng verboten, an die Straße zu gehen, wenn die Panzer kamen, auch wenn alle anderen Kinder dort standen und auch „Schoklääd, Schoklääd“ riefen. Aber die waren ja direkt an der Straße in der Nähe der Hofeinfahrt, während er und Heinrich genaugenommen gar nicht an der Straße standen, sondern geschützt hinter dem Zaun. Aber trotzdem wollte Konrad seinen Eltern lieber nichts davon erzählen.

Das Auto des Doktors war allerdings viel kleiner als die Panzer oder die Lastwagen, in denen die freundlichen Soldaten saßen. Aber Konrad hätte so gern einmal drin gesessen. Dr. Tonne begrüßte seinen Vater, sah dann auf ihn und sagte: „Bringen sie den Jungen zu Verwandten, Herr Trebeis, damit er sich nicht ansteckt.“ Vater zeigte auf die Tasche, die schon gepackt im Flur stand, und antwortete: „Ja, das hatte ich auch vor, ich möchte sie nur bitten, ihn vorher zu untersuchen.“ „Wird gemacht“, sagte der Doktor mit fröhlicher Stimme. „Komm mit in die warme Küche, junger Mann, damit ich dich abhören kann.“ Konrad wusste nicht recht, ob er mit „junger Mann“ gemeint war, so hatte ihn noch nie jemand genannt. Aber da außer ihm und Papa niemand da war, meinte der Doktor wohl ihn.

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ie gingen in die Küche und Elisabeth half ihm den Oberkörper frei zu machen, damit er abgehört werden konnte. Er musste tief atmen, husten und wieder atmen und dabei hielt der Doktor ein kaltes rundes Metallding an seine Brust und den Rücken. Dann konnte ihn Tante Elisabeth wieder anziehen und der Doktor lobte Konrad, weil er so gut geatmet und gehustet hatte. „Gott sei Dank, Herr Trebeis, der Kleine ist kerngesund,“ sagte er zu Wilhelm, worauf dieser ganz tief durchatmete, denn während der Untersuchung seines Sohnes hatte Wilhelm nur gepresst atmen können, so angespannt war er.

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eißt du was, Konrad,“ sagte Dr. Tonne, „wenn ich Deine Schwester untersucht habe und du uns dabei nicht störst, sondern brav hier unten auf mich und deinen Papa wartest, bringe ich dich und den Papa mit dem Auto zu euren Verwandten. Möchtest du das?“ Ob er das möchte, fragte der Doktor? Konrad konnte es fast nicht glauben, es war doch sein heimlicher Wunsch gewesen. Eifrig nickte er Dr. Tonne zu und setzte sich dann auf das Küchensofa, um zu warten.

Wilhelm begleitete den Arzt nach oben zu Elise und Helma. Als sie das Schlafzimmer betraten, starrte ihnen Elise angstvoll entgegen. Sie legte gerade ein frisches Tuch auf Helmas Stirn. Oma Trebeis begrüßte Dr. Tonne, nahm den Porzellankrug und ging dann nach unten, um frisches Wasser zu holen. Elise hatte noch kein Wort gesagt, sie saß auf der Bettkante, Helma in ihrem Rücken, und stützte ihre Arme ganz breit rechts und links ab. Als müsste sie ihre Tochter vor dem Arzt verbergen. Dr. Tonne, der sich vorstellen konnte, was in Elise vorging, ging auf sie zu, reichte ihr seine Hand hin und sagte: „Guten Tag Frau Trebeis, ich freue mich, dass sie aufgestanden sind. Ich bin nicht hier, um ihre Tochter abzuholen, ich will sie nur untersuchen. Und selbst wenn ich feststellen sollte, dass sie tatsächlich Keuchhusten hat, werde ich sie auf keinen Fall in ein Krankenhaus einweisen. Ich werde sie hier zu Hause bei ihnen behandeln, mit ihrer Hilfe und der Unterstützung ihrer Familie. Also, lassen sie mich bitte ihre Tochter ansehen.“ Zögernd reichte ihm nun auch Elise ihre Hand und rückte dann langsam zur Seite. Lange und gründlich untersuchte Dr. Tonne die kleine Helma und Wilhelm und Elise sahen ihm angstvoll zu. Endlich war er fertig, er deckte die Kleine sorgfältig zu und wandte sich zu ihren Eltern um: „Es ist, wie ich befürchtet habe, tatsächlich dieser hochansteckende Keuchhusten. Aber ich habe dank meiner Beziehungen zu unseren amerikanischen Besatzern genügend Penicillin, um Helmas Krankheit zu besiegen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 13.11.2006