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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Dr. Dr. Markus Jacobs


Es war vor wenigen Tagen: In einem Kreis von Christen wollten wir einen Gottesdienst feiern. Er sollte der Abschluss eines Arbeitstages sein, den wir gemeinsam in einem Bildungshaus verbracht hatten. Verschiedene Personen aus unserem Kreis hatten es übernommen, Gebete vorzutragen, mehrstimmige Gesänge zum Lob Gottes waren eingeübt worden, auch ein Orga-nist war bereit. Wenige Minuten aber vor dem Anfang des Gottesdienstes begann direkt neben unserem Haus eine Rockband aufzuspielen. Sie gehörte zu einem studentischen Fest und stand auf einer Freiluftbühne wenige Meter neben der Kirchenmauer.
Die Scheiben unserer Kapelle klirrten, man konnte noch durch die Mauern die Schallwellen in der Magengegend spüren. Ausweichen aus der Kapelle war nicht mehr möglich, es wollte aber auch niemand. Statt dessen breitete sich unter uns das Gefühl aus: dies gehört zum Leben, wir haben es immer noch selbst in der Hand, ob wir uns innerlich stören lassen. Und nicht zuletzt gönnte jeder der Anwesenden den Studenten ihr Fest an diesem noch warmen Herbstabend.
Dennoch wurde dieser Gottesdienst zu einem bleibenden Erlebnis: Wollte jemand ein Gebet sprechen, musste er bzw. sie fast schreien, um wenigstens von den ersten drei oder vier umste-henden Personen verstanden zu werden. Vierstimmige Musikstücke gewannen einen ganz an-deren Charakter, weil ein jeder eigentlich nur seine eigene Stimme hören konnte - ob die anderen noch sangen, und ob sie inzwischen höher oder tiefer, schneller oder langsamer sangen, blieb den Singenden verborgen. Besonders schwer war es für den Organisten, der wahrschein-lich kaum einen Ton der singenden Gemeinde vernahm. Nur in einigen kurzen Pausen zwi-schen den Musikstücken der Rockband draußen konnte er wieder Orientierung finden, an wel-cher Stelle des Gottesdienstes wir uns überhaupt befanden.
Aber das Gebet schritt dennoch unbeirrt voran. Niemand nahm es einem anderen übel, wenn plötzlich unter diesen widrigen Bedingungen zwei gleichzeitig sprachen. Es wurde auch nicht mehr so sehr auf den Wohlklang der Musik gelauscht, denn die elektronisch gigantisch ver-stärkten Elektrogitarren nebenan überlagerten ohnehin alles. Die hämmernden Bässe und das Schlagzeug wenige Meter entfernt schienen ihren Rhythmus diktieren zu wollen, aber jedermann in der Kirche hatte dennoch die Sicherheit, immer noch Herr seines eigenen Tempos zu sein. Das Gebet verlagerte sich für jeden von uns deutlich nach innen. Die Ohren lauschten mit der Zeit zunehmend mehr auf die inneren Klänge als auf die äußeren Schallwellen. Und nie-mand ließ sich entmutigen. Denn auch wenn man den Inhalt eines Textes nicht verstand, so war man doch sicher, dass diese Frau oder dieser Mann nach bestem Wissen und Gewissen etwas aus dem Geiste Gottes zu sagen versucht hatte. Und diese innere Überzeugung musste eben in diesem Moment reichen. . . 
Gebet und Gottesdienst unter diesen Bedingungen stellen keinen Idealfall dar. Aber es war dennoch „wie im wirklichen Leben“. Denn Gott hat eben keinen Sonderraum in seiner eignen Welt. Gott selbst hätte sich ja in seiner Schöpfung einen Schutzraum reservieren können, er hat es aber nicht getan. Es gibt zwar Kirchen und Tempel, das Gebet zu Gott und die Verehrung Gottes müssen aber überall geschehen können. Und eine junge Frau sagte nach dem Gottes-dienst, dass sie sich in diesem Gebet im Grunde genau gleich gefühlt habe wie unter ihren Ar-beitskolleginnen: Auch deren Reden hämmere oft ähnlich, während sie selbst das, was ihr wichtig sei, in ihrem Inneren ganz anders wahrnehme. Deshalb sei dieser Gottesdienst für sie so etwas wie eine kleine »Schule« gewesen. Sie empfand diese dreiviertel Stunde als Ermuti-gung, sich in ihrem eigenen Bemühen, mit Gott durch das Leben zu gehen, nicht unterkriegen zu lassen. Und eine Schule des Vertrauens in die Gemeinschaft der Glaubenden in der Kirche - jenseits von allem ausdrücklichen Verstehen - war dieses Erlebnis ebenso.

Artikel vom 14.10.2006