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»Bei uns geht es ums nackte Überleben«

Hawaii-Ironman mit Jürgen Klitzke

Von Hans-Heinrich Sellmann
Bielefeld (WB). »Hawaii? In sechs Wochen? Das wird nichts.« Jürgen Klitzke ist an diesem Sonntagabend den Tränen nahe. Mit einem schlichten Satz scheint sein Traum zu zerplatzen - in Nullkommanix. Nach monatelangem Training nur ein Satz: »Das wird nichts.« Vor Weihnachten kann er nicht wieder schwimmen, Rad fahren oder laufen, sagt der Arzt im Gütersloher Krankenhaus. Ganz sicher nicht alles zusammen an einem Tag, schon gar nicht beim Ironman-Triathlon auf Hawaii.

Seit Januar - lange vor seiner erfolgreichen Qualifikation - erzählte der TSVE-Triathlet jedem: »Ich bin auf Hawaii dabei.« An der Geburtsstätte seiner Sportart, beim härtesten Wettkampf dieser Art - den Weltmeisterschaften. Und das sollte mit einem Schlag zu Ende sein. Keine Chance? Wegen eines Schlüsselbeinbruchs? Weil ihn ein unaufmerksamer Motorradfahrer gerammt, fast vom Rad geschossen hat? Jürgen Klitzke denkt gar nicht daran aufzugeben. Er hat eine Hoffnung und die heißt Dr. Jens Brüntrup. Der Mediziner am städtischen Krankenhaus in Bielefeld ist selbst Triathlet und sagt die vier magischen Worte, die sein Patient hören will: »Das kriegen wir hin.«
Sie haben es hingekriegt. Jürgen Klitzke war dabei, als am Samstag um 9.30 Uhr etliche Triathleten aus ganz Deutschland vom Frankfurter Flughafen gen Amerika aufbrachen. Dank eines Rucksackverbandes und diverser Medikamente. »Natürlich spüre ich noch, dass es da eine Verletzung gibt. Aber das verdränge ich.«
Und dafür ist das Inselparadies im Pazifischen Ozean nicht der schlechteste Platz auf Erden. Nach insgesamt 18 Stunden reiner Flugzeit mit Zwischenstopps in Chicago und Los Angeles bezog der 55-Jährige gemeinsam mit seiner Frau Annegret Quartier im Royal Seacliff Hotel in Kailua-Kona - und erlebte einen Schrecken zur Begrüßung. Nur einen Tag nach seiner Ankunft erschütterte um 7.07 Uhr Ortszeit ein Erdbeben das Triathlon-Mekka. Alsbald erreichte eine e-Mail das WESTFALEN-BLATT. »Warme Grüße aus Big Island. Bis auf das Erdbeben heute Morgen ist alles toll,« gab Klitze Entwarnung. Der Steinhagener kam mit dem Schrecken davon und fiebert nun aufgeregt dem Start am Samstag entgegen. »Drückt mir die Daumen.«
Im Gegensatz zu jüngeren Mitstreitern wie Ingmar Lundström verzichtet Klitzke auf Trainingseinheiten vor Ort. »Ein bisschen schwimmen muss reichen. Ich bin ja nicht mehr der Jüngste.« Er freut sich aufs Treffen mit den anderen Athleten und will schnell viele Eindrücke sammeln. Schließlich können die Klitzkes nicht wie andere nach dem Rennen noch eine Verlängerungswoche dranhängen. »Ich habe nicht genug Urlaub, musste schon einen Tag vom nächsten Jahr nehmen«, sagt der Chauffeur einer Gütersloher Anwaltskanzlei.
Trainingslager auf Fuerteventura, Qualifikationswettkampf in Zürich, Vorbereitung auf Hawaii, dann der Schlüsselbeinbruch - Triathlon hat fast das gesamte Jahr 2006 bestimmt. »Wir haben keine Kinder, deswegen mache ich das«, sagt Jürgen Klitzke verschmitzt lächelnd. Wohl wissend, dass er sich einen Großteil seines Lebens kein disschen für Sport interessiert hat. Vor neun Jahren »wusste ich nicht, was der Ironman ist« und wog 107 Kilogramm. Ein Zeitungsartikel über Joschka Fischer brachte ihn schließlich auf die Idee. »Was der kann, kann ich auch«, dachte Klitzke und eiferte fortan dem früheren Politiker nach, der sich vom vollschlanken Genussmenschen zum Marathonläufer gemausert hatte. Mit dem kleinen Unterschied, bislang nicht auch wieder den umgekehrten Weg gegangen zu sein.
Jürgen Klitzke hat sich durchgebissen - immer. Beim ersten »10er«, dem ersten Marathon, dem ersten Triathlon, dem ersten Ironman und zuletzt dem ersten schweren Sturz (»Da steht die Leidensfähigkeit auf dem Prüfstand«). Er will sich auch auf Hawaii durchbeißen: »In meiner Altersklasse geht's nur ums nackte Überleben.«

Artikel vom 19.10.2006