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Kevins Tod - fast
nach Aktenlage

Erneut totes Baby in Hamburg

Bremen/Hamburg (WB/dpa). Bundesweites Entsetzen über den »Fall« Kevin. Und während der nach gut 30 Monaten qualvollen Lebens völlig verwahrlost und vermutlich gewaltsam gestorbene Junge noch nicht einmal bestattet ist, wird in Hamburg erneut eine Babyleiche gefunden.

Ein Passant entdeckte das tote Neugeborene gestern in einem Gebüsch im Stadtteil Barmbek - in einer Plastiktüte, die neben dem Metallgitterzaun einer Kindertagesstätte abgelegt worden war. Von Mutter oder Eltern (noch) keine Spur.
Doch während vermutlich hier, wie in einer Reihe ähnlicher Fälle allein in jüngerer Vergangenheit, den Tätern oftmals zumindest akute Verzweiflung und Ausweglosigkeit als Auslöser der spontanen Tat strafmildernd angerechnet werden können, will es angesichts des im heimischen Kühlschrank aufbewahrten Leichnam Kevins so gar nicht einleuchten, dass niemand in der Lage war, das Unheil frühzeitig zu stoppen.
Dabei lagen die Akten auf dem Tisch. Beinahe vom ersten Lebenstag an wurde der gut 30 Monate währende Leidensweg genau dokumentiert, ja schon zuvor wussten die Behörden um die desolaten Zustände im drogensüchtigen Elternhaus. Erste Entgiftung im Alter von zwei Monaten, Misshandlung, Gewichtsverlust, Heimaufenthalt, Knochenbrüche und der ungeklärte Tod der drogensüchtigen Mutter reihen sich im Leben des Bremer Jungen aneinander.
Ärzte, Pfleger, Bewährungshelfer und Behördenmitarbeiter begutachteten ihn. Gegen seinen Vater wurde zeitgleich wegen des Todes der Mutter ermittelt. Sogar Spitzenpolitiker im Stadtstaat wussten seit Jahresanfang um das Schicksal, die Leiden und Entbehrungen des Kleinkindes.
Nun ist er tot - und es herrscht blankes Entsetzen. Nach der bangen Frage »Wie konnte das passieren?« rufen Politiker aller Fraktionen nun unisono nach »besserer staatlicher Fürsorge«, sehen »Handlungsbedarf« und wollen »Frühwarnsysteme« und mehr »staatlichen Schutz«.
Die Jugendämter ihrerseits fühlen sich in der Klemme. Denn ebenso, wie sie - in diesem extremen Fall von Versagen wohl zu Recht - beschuldigt werden, nicht eingegriffen zu haben, kämpfen sie auf der anderen Seite oft genug mit dem Vorwurf, Kinder zu früh oder überhaupt ungerechtfertigt aus Familien zu nehmen, die sie als problematisch und für das Wohlergehen des Kindes gefährlich eingestuft haben.
Laut UNICEF sterben in Deutschland pro Woche zwei Kinder an den Folgen von Misshandlungen. Familien, Krankenhäuser, Hebammen, Kinderärzte sollen mit ins »Frühwarnsystem« integriert werden, um auffällige Eltern auszumachen, heißt es nun. Aber im Fall Kevin war das Problem, seine Verwahrlosung, längst allen verantwortlichen Stellen bekannt.
Ein Untersuchungsausschuss soll in Bremen aufklären, was sich in den Behörden abgespielt hat. SPD und CDU haben dem Verlangen der Grünen bereits zugestimmt. Zur Sprache kommt in dem Zusammenhang ein schlimmer Verdacht: Die Behörden könnten aus Kostengründen gezögert haben - Heimaufenthalte sind teuer.
Bei Kevin daheim, so die Aktenlage, hatte zuletzt im April ein Mitarbeiter des Sozialzentrums vorbeigeschaut. Der Vater ließ danach niemanden mehr in die Wohnung. Als Polizisten ein halbes Jahr später die Wohnungstür aufbrachen, deutet er nur noch auf den Kühlschrank mit der Leiche.

Artikel vom 13.10.2006