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Soziale Arbeit
in der Diskussion

Tagung mit 190 Wissenschaftlern

Bielefeld (sas). Die kollektive Sicherung der Bürger ist ein Merkmal des Sozialstaates. Zunehmend aber müsse sich soziale Arbeit legitimieren - und zwar in Zeiten, in denen sie nötiger denn je erscheint, konstatiert Prof. Dr. Hans-Uwe Otto. »Wir müssen aufpassen, dass die gegenwärtigen Tendenzen der Umsteuerung sozialer Hilfe nicht zur Aufspaltung der Gesellschaft führt«, mahnt er.

Mit der Frage nach dem »Warum« sozialer Arbeit befasst sich seit gestern eine Tagung der Universität Bielefeld. 190 Wissenschaftler aus 15 Ländern diskutieren die Perspektiven öffentlicher Wohlfahrt und neue Normen, fragen nach Veränderungen der rechtlichen Grundlagen und den Auswirkungen auf die Sozialarbeit. Organisatoren der Tagung, die sich in eine Reihe von Symposien einordnet, sind Otto und Dr. Fabian Kessl von der AG Sozialarbeit/Sozialpädagogik der Fakultät für Pädagogik. Gefördert wird die Konferenz vom NRW-Familienministerium.
Kritik am Sozialstaat, so Kessl, übten unterschiedliche politische Lager: In den Reihen der sozialen Bewegung werde die Standardisierung von Lebensläufen, werden Normalitätserwartungen bemängelt. Neoliberale oder konservative Stimmen hingegen verlangten den »aktivierenden« Staat. »Nicht mehr gesellschaftliche Strukturen, sondern das Verhalten des Einzelnen werden als Ursache sozialer Ungleichheit gesehen. Das ist fast ein Selbstverantwortungsmantra«, meint Otto, der zudem feststellt, dass mit den Betroffenen »pädagogisch« umgegangen werde.
Zu kurz komme in der Diskussion über den Wohlfahrtsstaat, bemängeln die Forscher, sein Erfolg: »Ohne staatliche Transferleistungen hätten wir laut Armutsstudie eine Armutsquote von 42 statt 14 Prozent.« Längst werde auch die Mittelschicht »angekratzt« und »sozialproblematisch markiert«. »Sozialarbeit ist heute längst nicht nur Armenfürsorge.« Es gehe um die Auseinandersetzung mit der Zukunft von Bevölkerungsteilen, die von sich aus keine Chance hätten, zur Normalität zurückzufinden. »Ohne sozialstaatliche Hilfe gibt es keine Entwicklung einer Zivilgesellschaft«, formuliert Otto.
Angesichts von mindestens 1,5 Millionen Kindern und Jugendlichen, die unter Armutsbedingungen leben und angesichts weiterer 1,3 Millionen junger Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne abgeschlossene Ausbildung, so Otto, sei die Investition in begleitende Hilfen (auch wenn diese weder die Strukturen ändern noch Arbeitsplätze schaffen könnten) sinnvoll: »Sie ist ökonomisch effizienter als die Finanzierung einer zementierten Unterschicht.«
Verändert hat sich soziale Arbeit auch dadurch, dass sie sich einem Markt stellen und Effizienz beweisen muss. Zudem, so Otto, zwängen gesetzliche Vorgaben dazu, Kontrollfunktionen wahrzunehmen. Und schließlich müsse soziale Arbeit wegen des Anstiegs der Armut zunehmend »Feuerwehr« sein. Seine Konsequenz aus seinen Analysen: »Soziale Arbeit muss sich repolitisieren, sich einmischen und für Menschen in prekären Situationen das Wort ergreifen - und dies gesellschaftspolitisch begründen.«

Artikel vom 13.10.2006