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Sport schafft
Freiräume

Uni-Studie über junge Türkinnen

Von Sabine Schulze
Bielefeld (WB). Bis zu ihrem 15. Lebensjahr war die junge Türkin eine erfolgreiche Schwimmerin. Dann erteilte ihr Vater ihr das Verbot, diesen Sport weiter zu betreiben: Der Körper des Mädchens war nicht genug verhüllt. »Ich brauche einen Sport, bei dem ich mehr angezogen bin«, überlegte sie - und wurde erfolgreiche Karatekämpferin. Eine Freundin hatte den Tipp gegeben: »Lange Jacke, lange Hose - da sagt dein Vater bestimmt nichts.«

Mit Beginn der Pubertät birgt der Sport für viele Töchter türkischer Arbeitsmigranten ein gewaltiges Konfliktpotential. Für sie gelten nämlich drei entscheidende Gebote, deren Einhaltung ihre Eltern durch die aushäusigen Aktivitäten in Gefahr sehen: Sie haben sich zu verhüllen. Sie müssen sich vom anderen Geschlecht fernhalten. Und sie müssen vor allem ihre Jungfräulichkeit bewahren. Daneben aber bietet der Sport den Mädchen und jungen Frauen die Chance, schrittweise Freiräume zu gewinnen, einen eigenen Freundeskreis aufzubauen und - nicht eben selten - Bildungschancen wahrzunehmen.
Wie Sport zur Sozialisation junger türkischer Migrantinnen beitragen kann, hat Prof. Dr. Christa Kleindienst-Cachay, Sportwissenschaftlerin an der Uni Bielefeld, untersucht. Sie hat junge türkische Fußballerinnen aus Hannover ebenso befragt wie Leistungssportlerinnen. Ihre Studie wurde vom NRW-Sportministerium finanziell gefördert.
»Auffällig ist, dass sich junge Türkinnen häufig eher für männlich dominierte Sportarten entscheiden: Fußball, Karate, Boxen, Taek Won Do. Das liegt zum einen an der verhüllenden Sportkleidung, zum anderen daran, dass diese Disziplinen bei den Türken hohes Ansehen genießen.« Nicht zuletzt rechtfertigen Väter diesen Sport ihrer Töchter im Familienkreis damit, dass die Mädchen so ja auch in der Lage seien, ihre Ehre zu verteidigen. Denn rechtfertigen müssen sich auch die Väter: Schließlich ist die soziale Kontrolle oft groß und wird die Ehre der Familie am Verhalten der Töchter gemessen.
Spätestens mit Beginn der Pubertät verlieren die jungen Türkinnen ein gutes Stück Bewegungsfreiheit und werden unter Aufsicht gestellt. Da kann es schon problematisch sein, nach dem Training noch eine halbe Stunde an der Mannschaftsbesprechung teilzunehmen. Und Turniere, deren Ende offen ist, oder Wettkämpfe außerhalb können zum Prüfstein werden. Eine der Fußballerinnen berichtet, dass sie von ihrem Vater mit dem Tod bedroht wurde und Schläge vom Bruder einstecken musste.
In den Interviews wurde deutlich, dass in den strengen Familien Freiheiten vorsichtig, lavierend, erstritten werden müssen. »Die Jungen haben alle Freiheiten. Die Mädchen müssen sich mit den Normen und Werten ihrer Ethnie auseinandersetzuen, sie bringen Dynamik in die Familien«, sagt Kleindienst-Cachay. Dabei loten sie aus, was geht, was gerade noch tolerabel ist. Und die Eltern akzeptieren allmählich, dass Dinge verhandelbar sind.
Der Sport wird dann oft zum Katalysator für Entwicklungsprozesse und hilft, die soziale Isolation zu durchbrechen, in der sich junge Türkinnen konservativer Familien befinden. »Wenn sportliche Erfolge hinzukommen, stärkt dies das Selbstbewusstsein.« Und schließlich erwerben die Mädchen im Gespräch mit Mannschaftskameradinnen Deutschkenntnisse und bekommen Tipps für die eigene Bildungskarriere, meint Kleindienst-Cachay. »Immer wieder haben wir gehört, dass dadurch erst die Idee aufkam, einen höheren Schulabschluss anzustreben.« Tatsächlich hatten 40 Prozent der interviewten türkischen Leistungssportlerinnen Abitur und/oder Hochschulabschluss.
Gleichwohl kann das, was sie durchgesetzt haben, fragil sein: eine erfolgreiche Taek-Won-Do-Kämpferin hätte fast ihre Laufbahn beenden müssen, nachdem ihr Onkel gesehen hatte, wie der Ringrichter nach einem Sieg ihren Arm nach oben riss. Aufgebracht eilte er zum Vater und verlangte Konsequenzen, weil ein fremder Mann die junge Frau berührt hatte. Die hatte Glück: Ihr Vater verteidigte sie - und ihre Freiheit.

Artikel vom 20.10.2006